Gladbecker Geiseldrama: Brötchen für den Gangster
20 Jahre nach dem Geiseldrama von Gladbeck traf die WZ jene Frau, die dem schwer bewaffneten Gangster Hans-Jürgen Rösner am 18. August 1988 in Oberbarmen zehn Brötchen verkaufte.
Wuppertal. Dass sich dieser Donnerstag im August 1988 zu einer dramatischen Erfahrung entwickeln würde, konnte die Bäckereifachverkäuferin Rosemarie Schimke nicht ahnen. Es war doch bloß ein Durchschnittstyp in einem Blaumann, der an jenem Morgen gegen 9 Uhr den Laden an der Berliner Straße betrat und "ganz normal und gar nicht frech" zehn belegte Brötchen mit Salami und Käse bestellte. Dass dieser Mann in seiner Hand eine Pistole trug, war Rosemarie Schimke entgangen. Die gutherzige Frau hielt das L-förmige Ding für einen Akku-Schraubbohrer.
Folglich wurde der damals 43-Jährigen auch nicht bewusst, dass dieser Mann kein Handwerksgeselle oder Bauarbeiter war, sondern ein unberechenbarer Geiselnehmer, der sich auf der Flucht vor Heerscharen von Polizisten befand. Ein Schwerverbrecher namens Hans-Jürgen Rösner, der sich gemeinsam mit seinem Kompagnon Dieter Degowski nach einem Banküberfall in Gladbeck auf einem Horrortrip quer durch die Republik befand. Ein Duo Infernale hatten die beiden gebildet, das Geiseln in seine Gewalt genommen und einen Bus gekapert hatte. Ein Drama, das bereits zwei Tote gefordert hatte (S. 3).
Und ausgerechnet in Oberbarmen mussten die Gangster einen Zwischenstopp einlegen und ausgerechnet bei Rosemarie Schimke Brötchen bestellen. Den vom schwer bewaffneten Rösner eingeforderten Kaffee musste die ahnungslose Fachverkäuferin bedauernd zurückweisen. Man habe keinen Kaffeeausschank - Notfall hin, Notfall her.
Gustav Heyer, heute Sprecher der Wuppertaler Polizeidirektion, hatte am 18. August 1988 einen freien Tag. Aber er weiß noch, dass die Beamten in Wuppertal in der brütenden Sommerhitze schwitzten. Doch von den dramatischen Minuten in Oberbarmen bekamen sie nicht viel mit. "Wir waren nicht beteiligt, da waren die Einsatzkommandos dran", erinnert sich Heyer. "Alles ging sehr schnell." Innerhalb kürzester Zeit waren Rösner und Degowski bereits wieder auf der Autobahn.
Zuvor hatten sie in Wuppertal übrigens nicht nur an der Bäckerei Halt gemacht, sie betraten - unbehelligt, aber im Visier der Polizei - an der Berliner Straße außerdem eine Apotheke und ein Foto-Fachgeschäft. In die Einkaufstüte kamen Medikamente und ein Fernglas. In der Apotheke ließen sie zudem eine Komplizin verbinden.
Wenn Rosemarie Schimke damals fern gesehen hätte, dann wäre ihr dieser außergewöhnliche Kunde bekannt vorgekommen. Das Gesicht von Hans-Jürgen Rösner flimmerte in diesen Spätsommer-Tagen nonstop über die Mattscheibe. Aber Rosemarie Schimke war notorische Radio-Hörerin.
Der Schrecken fuhr ihr erst in die Glieder, nachdem Rösner bereits die Bäckerei verlassen hatte. Sie warf einen Blick auf die Berliner Straße. "Alles war voller Polizisten und Journalisten", erinnert sich die heute 63-Jährige. "Da wusste ich Bescheid." Im Nachhinein sei die Begegnung mit dem Gangster zu einem "Riesenschock" geworden. "Ich konnte nächtelang nicht schlafen, war völlig aufgewühlt." Sie räumt aber ein, dass auch die exzessive Berichterstattung in den Medien sie nicht zur Ruhe habe kommen lassen.
So sehr die Medien sich seinerzeit in noch nie dagewesener Art und Weise auf das Geiseldrama stürzten, so zurückhaltend sind die Zeugen von damals heute. Jener Apotheker, der Kontakt mit den Geiselnehmern hatte, ist des Themas ebenso überdrüssig wie der Angestellte des Foto-Geschäfts, der Rösner ein Fernglas für 80 Mark verkauft hatte.
Dabei hatte der Foto-Fachmann damals geistesgegenwärtig reagiert und den Bäckerei-Besuch Rösners von der anderen Straßenseite aus mit einer Kamera gefilmt. Die Aufnahmen existieren noch heute, Rosemarie Schimke hat damals, 1988, eine Kopie bekommen - zur Erinnerung.