„Ich verteidige nie eine Tat, ich verteidige einen Menschen“

Anwältin Andrea Groß-Bölting spricht darüber, wie es ist, Schwerverbrecher vor Gericht zu vertreten.

Foto: Gebhard Bücker

Sie vertritt Mörder, Sexualverbrecher und sogar Terroristen vor Gericht, kämpft für möglichst milde Strafen. Sie weiß, dass viele ihre Arbeit skeptisch betrachten. Sie empfindet dabei aber keinen Konflikt mit ihrem Gewissen. „Ich mache, was das Gesetz erfordert“, sagt Andrea Groß-Bölting (50). „Jeder Angeklagte hat das Recht, verteidigt zu werden. Wir erfüllen eine Aufgabe.“

Dabei hätten auch Anwälte ihre Grenzen. Sie kennt Kollegen, die nicht bei Sexualdelikten verteidigen. Sie selbst will keine rechten Straftäter vertreten. „Das hat mit der jeweiligen Sozialisation zu tun.“

Ihr Prinzip: „Ich verteidige nie eine Tat, ich verteidige einen Menschen.“ Und sie habe noch nie einen Angeklagten erlebt, der nur aus dem bestand, was die Tat ausmachte. Es gebe immer viele Facetten. „Mich interessiert, was Menschen ausmacht“, sagt sie.

„Ich versuche darzustellen, dass es eine Geschichte gibt, die zu der Tat geführt hat.“ In vielen Fällen — „nicht jedes Mal“ — gelinge es ihr, die Entwicklung zur Tat nachzuvollziehen. Was nicht heiße, dass sie damit die Tat entschuldige. Ihr ist wichtig; „Ich bin kein Richter, ich entscheide nicht. Und ich fälle ganz bewusst kein moralisches Werturteil.“ Dass ihr das Gehörte nicht über den Kopf wächst, dabei helfen ihr Gespräche mit den Kollegen in ihrer Kanzlei und eine professionelle Supervision mit einer Psychologin.

Ihre Rolle als Anwältin sieht sie darin, ihre Mandanten mit ihrem juristischen Wissen und ihren Erfahrungen zu beraten, auf Fragen zu antworten wie: Was habe ich zu erwarten, was würden Sie jetzt tun? „Ich sage, es gibt die und die Möglichkeit, zeige jeweils auf, was die Vor- und Nachteile sind.“ Und in der Verhandlung vor Gericht umfasse ihre Rolle auch, darauf zu achten, dass die Rechte des Angeklagten gewahrt werden.

Dass jemand zu milde bestraft wird, ist keine Sorge von Andrea Groß-Bölting. Denn sie stehe der Strafe grundsätzlich kritisch gegenüber: Sie sei nicht geeignet, jemanden dazu zu bringen, sich an die Regeln der Gesellschaft zu halten. Verurteilte Täter säßen oft in ihrer Zelle und fühlten sich ungerecht behandelt.

Für sinnvoller halte sie eine echte Auseinandersetzung mit der Tat und ihren Folgen — wie es etwa beim Täter-Opfer-Ausgleich bereits praktiziert werde. Wenn das Opfer nicht will, sollte sich der Täter mit dem Opfer einer ähnlichen Straftat befassen, begreifen, was seine Tat für dieses bedeutet. „Er soll sich damit beschäftigen: Was richte ich an? Nur dann wird er sein Verhalten ändern.“ Sie ist überzeugt, dass insgesamt häufiger zu hart bestraft wird als zu milde.

Besorgt ist sie dagegen darüber, dass sie als Verteidigerin zunehmend eine emotionale Ablehnung durch Prozessbesucher erfährt. „Ich erlebe, dass ich bald angespuckt werde.“ Sie habe auch schon mal gefürchtet, jemand könnte handgreiflich werden.

„Ich finde das unerträglich und gefährlich. Es muss doch möglich sein, die Aufgabe des Verteidigers zu übernehmen, ohne Spießrutenlaufen und Einschüchterung.“

Sie hält das für eine Folge der Gerichtssendungen im Fernsehen, durch die sich Zuschauer wie in der Richterposition fühlten. Wegen dieser Entwicklung ist sie inzwischen oft froh, wenn es wenig Publikum gibt: „Dann kann man mit Argumenten kämpfen.“