Eine Kulisse geht auf Reisen: Tanztheater packt für London
Die Olympia-Mission hat begonnen: Am Freitag wurde das erste Bühnenbild („Viktor“) nach Großbritannien geschickt.
Wuppertal. Lückenfüller beim Tanztheater: Die Rolle, die am Freitag unzähligen Kulissenteilen zufiel, ist eine ganz besondere. Ob Kabel, Kostüme oder Kisten voller technischer Utensilien: Kaum entdeckten die starken Männerhände, die im Inneren eines Lastwagens tatkräftig bei der Sache waren, eine Ecke, die sie noch nicht genutzt hatten, wurde die Lücke auch schon gestopft — mit silbernen Boxen, die das Heiligste des Pina-Bausch-Ensembles bergen: Requisiten, Werkzeuge, Bühnenbilder.
„Viktor“ brachte den Tross ins Rollen: Das Stück, mit dem die Compagnie am 6. Juni ihren Aufführungsmarathon beim „London 2012 Festival“ einläutet, ist auch das erste, das auf dem Einpackzettel steht. So beginnt die Reise Richtung London am Wuppertaler Stadtrand: Vier Lastwagen brachte das Team am Freitag auf den Weg. 47 weitere werden in den kommenden Tagen folgen.
Denn das Pensum ist immens — nicht nur für die Tänzer. Zehn Stücke wird das Wuppertaler Ensemble bei der Kultur-Olympiade vorstellen. Zwei Stunden brauchen die kräftigen Zupacker allein, um den ersten Truck zu beladen. Dabei ist das Bühnenbild von Peter Pabst kaum wiederzuerkennen: Der Erdhang, der auch in London alle Blicke auf sich ziehen soll, liegt da, wie ihn kein Zuschauer jemals zu sehen bekommt — in Einzelteile zerlegt.
Zum Team, das die Kulisse für „Viktor“ Schritt für Schritt ihrem Schicksal übergibt, gehören deshalb Hoch-Stapler im besten Sinne: Die Kulissen-Schieber tragen künstliche Erdhang-Elemente vorsichtig in den Truck, rücken sie — wie bei einem Puzzle — zurecht und stöhnen plötzlich, weil sie merken, dass die Reihenfolge nicht stimmt. Also gilt: Ärmel hochkrempeln und neu sortieren.
Abgesehen von kleineren spontanen Umladeaktionen gleicht der Einpack-Marathon einer ausgefeilten Choreografie. Alles ist minuziös geplant und muss streng nach Liste eingeräumt werden — sonst haben die Kollegen in London, die die Ladung schon sehnsüchtig erwarten und die Kulissen aufbauen werden, zwar die richtigen Bausteine, allerdings zur falschen Zeit. Genauso wichtig wie die Tatsache, dass alle Requisiten London erreichen, ist nämlich die Reihenfolge ihrer Anlieferung.
„Muss R 4 denn überhaupt in Truck zwei?“, fragt eine Stimme aus dem Hintergrund. Requisiteur Arnulf Eichholz schaut in seine Liste — und schüttelt den Kopf. „R 9 ist aber dabei!“, ruft er zurück. Und was ist mit der Tanzteppich-Rolle, die auf den Namen L 7 hört? Fragen über Fragen, die spürbar für Anspannung sorgen. Zwar ist das Kofferpacken im Tanztheater Routine, allerdings ist das Team in der Regel zehn Tage lang mit einem Stück unterwegs. Nun sind es 40 Tage und zehn Stücke — eine logistische Herausforderung, die noch nie auf dem Programm stand.
Die Mission London ist ein Mammut-Projekt, detailliert geplant und mit Herzblut auf den Weg gebracht. Und dennoch passiert es: Der Tanzteppich, Basis jeder Inszenierung, fehlt — zumindest in Lastwagen Nummer eins, wo er hingehört. Da hilft nur eines: einzelne Lückenfüller wieder hinausbefördern, stattdessen neun Teppich-Rollen (jeweils 20 Meter lang und 73 Kilogramm schwer) einladen und das Puzzle neu zusammensetzen.
Die Anstrengung soll sich lohnen: Das Ensemble rechnet in London mit 26 000 Gästen. Nur weniges nehmen die Spitzentänzer nicht mit: Zwei Schafe, vier Schoßhündchen, zwei Pekinesen, drei Hühner, zwei kleinen weiße Tauben, vier weiße Mäuse, ein sechsjähriges Kind, Musiker und rund 55 Statisten sind bereits in Großbritannien — sie wurden in London gecastet.