Frech und fröhlich: Junge Tänzer erobern die Berlinale
Premiere: Wuppertaler Charme überzeugt - Der Film „Tanzträume“ und seine Akteure konnten die Zuschauerherzen schnell für sich gewinnen.
Berlin/Wuppertal. Wer direkte Fragen stellt, möchte auch ehrliche Antworten. Die 41 Nachwuchstänzer, die im Berliner Kant Kino auf der Bühne stehen, fackeln deshalb nicht lange. Ob sie das Filmteam nicht nervös gemacht habe, möchte das Publikum wissen. "Na klar, die Kamera hat schon gestört", sagt ein Jugendlicher. Ein anderer springt ihm bei und versucht gar nicht erst, sich hinter einer coolen Maske zu verstecken: "Das war alles echt aufregend."
Mindestens genauso spannend ist die Berlinale, bei der die Jugendlichen erfolgreich die Werbetrommel geschlagen haben - für "ihren" Film, für das Tanztheater und nicht zuletzt für Wuppertal. Weil die 41 Jugendlichen, die in Berlin "Tanzträume" vorstellen, weit davon entfernt sind, sich wie abgebrühte Profi-Schauspieler zu benehmen, reden sie sich unverblümt in die Herzen der Zuschauer. Auch in Anne Linsels Dokumentarfilm ist es die Mischung aus naiver und frecher Lebenslust, die den Zuhörer fesselt und mitfiebern lässt.
Dass ihr Film über die Proben zur jüngsten "Kontakthof"-Version seine Uraufführung bei den Internationalen Filmfestspielen erlebt, ist "eine große Ehre", wie Linsel betont. Sie hat ihr 89-minütiges Werk Pina Bausch gewidmet und ist froh, dass die Star-Choreographin den Film kurz vor ihrem Tod noch in einer fast fertigen Fassung sehen konnte.
Auch Kameramann Rainer Hoffmann sind Stolz und Aufregung ins Gesicht geschrieben, selbst wenn er mit seiner Lederjacke betont locker über den roten Teppich marschiert. "Das Ganze war ein Experiment", sagt er. "Ich habe gelernt, mich mit den jungen Tänzern zu bewegen. Das hat großen Spaß gemacht." Und geht auf, weil die Jugendlichen die Kamera und die Menschen dahinter ganz nah an sich heranließen.
"Ich habe sie zu Hause besucht, mit ihren Eltern gesprochen und einzelne Jugendliche im Nachhinein noch einmal gefragt, ob ich tatsächlich verwenden darf, was sie vor der Kamera von sich preisgegeben haben", betont Linsel. So erfahren die Zuschauer, dass Pina Bausch ein Pokerface hatte und ihre Schützlinge mitunter Bauchschmerzen plagten - aus Angst, es nicht als Erstbesetzung auf die Bühne zu schaffen.
Das berührt. Im abgedunkelten Saal kullern an verschiedenen Stellen sogar Tränen - wenn die Tänzer in den wohl dosierten Interviewsequenzen von ihrem Schicksal berichten. Vom toten Vater, dem untreuen Ex-Freund oder den Vorurteilen, mit denen ein junger Roma leben muss.
Es wird aber auch oft und laut gelacht - wenn einer der Nachwuchskünstler mal wieder einen frechen Kommentar abgibt. Über den ersten misslungenen Kuss, den lästigen Hüftspeck oder den Akzent der beiden Probenleiterinnen Bénédicte Billiet und Jo Ann Endicott.
Safet Mistele (17) ist einer der wenigen, die nun Anlauf zum Sprung ins Profilager nehmen. Aus dem einstigen Hip-Hopper ist ein junger Mann geworden, der seit sieben Monaten Ballettunterricht nimmt und im Sommer die Aufnahmeprüfung an der Folkwang-Hochschule schaffen will. "Ich bin der Zigeuner aus dem Film", sagt Safet und grinst ganz cool, als er nach der Vorführung vor der Leinwand steht und zusammen mit seinen Kollegen Rede und Antwort steht.
Der spezielle Wuppertaler Charme wirkt: Das Publikum klatscht euphorisch. Dabei gilt der Applaus nicht nur dem bewegenden Film der routinierten Journalistin, er gilt vor allem auch der spontanen Offenherzigkeit "ihrer" Jugendlichen.