Gymnasium Bayreuther Straße: Schüler warten auf den "Besuch der alten Dame"
Die Wuppertaler Bühnen bereiten Gymnasiasten auf den „Besuch der alten Dame“ vor.
Wuppertal. Demonstrativ auf die Uhr schauen? Normalerweise sollten Schüler davon Abstand nehmen — sofern sie es sich mit ihren Lehrern nicht verderben wollen. Nicht so im Gymnasium Bayreuther Straße. Dort sollten Teenager gestern regelrecht Theater machen.
Buchstäblich fünf vor 12 ist es, als Markus Höller das entscheidende Zeichen gibt. Was Schüler im Unterricht sonst höchstens heimlich wagen, ist für 24 Klassenkameraden plötzlich Pflicht: Die Neuntklässler sollen auf die Uhr schauen — der Reihe nach, absichtlich und alles andere als unauffällig.
Eine Geste, die der Theaterpädagoge nicht nur angeordnet hat, sondern am Ende auch mit einem Lob quittiert. Das Urteil des Fachmanns fällt eindeutig aus: „Okay, super, Applaus!“ Ein Stichwort, das zu einem Theater-Workshop passt wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge: Die Schüler klatschen nach jeder Übung — erst leicht grinsend und zögerlich, später immer fester und selbstbewusster. Es scheint so, als machten sie sich selbst Mut. Und in der Tat: Was mit einem langsamen Aufwärmen beginnt, nimmt schnell Fahrt auf.
Den Anstoß gibt eine alte Dame, die körperlicht gar nicht anwesend, aber doch stets präsent ist. Denn wenn „Der Besuch der alten Dame“ ab dem 17. Mai im Barmer Opernhaus zu erleben ist, sollen die Schüler bestens präpariert sein. Höller möchte sie auf eine Inszenierung vorbereiten, die bereits in Remscheid zu sehen war und durchaus Erklärungsbedarf mit sich bringt — wohl wissend, dass Sybille Fabians Arbeit mit ihrer expressiven Ästhetik kein klassischer Theaterabend ist.
So erklärt sich auch der Blick auf die Uhr. „Die Inszenierung arbeitet mit dem Mittel der Übertreibung“, betont Höller in der Aula, die zur Bühne wird. „Deswegen wäre es cool, wenn Ihr das Element der übertriebenen Gestik und Haltung übernehmen könntet.“ Leichter gesagt als getan: Speziell die Jungen lächeln erst einmal auffällig verschmitzt, wenn es darum geht, das Innere nach außen zu kehren und anderen tief in die Augen zu schauen.
Kommt Zeit, kommt Mut: Auf dem Weg zu kleinen Spielszenen erarbeiten Vierer-Gruppen einzelne Standbilder — eine Herausforderung, die den Schülern sichtlich Spaß macht. Wie in Comic-Szenen halten sie inne, heben die Faust, schießen mit imaginären Pistolen aufeinander.
Den dramatischen Stoff spielerisch verstehen — das ist das Ziel. „Die Inszenierung ist nicht so realistisch wie ein Kinofilm“, erklärt Höller. „Die Regisseurin hat eine Kunstsprache gefunden. Aber gerade das ist doch spannend. Man muss im Theater ja keine Leute sehen, die man in der Schwebebahn trifft.“
Es wird gekichert, gefeixt und geprobt. Das Ergebnis ist verblüffend. Alle Hemmungen scheinen vergessen zu sein, wenn es um die alles entscheidende Frage geht: „Was täte ich für Geld?“, sagt Höller mit Blick auf Dürrenmatts Geschichte über ein ganzes Dorf, das buchstäblich käuflich wird. „Die Aufgabe lautet: Was bin ich bereit, für Geld zu tun? Spielt das pantomimisch durch. Die anderen müssen raten.“ Betteln, putzen, einen Frosch küssen: Das alles sind harmlose Varianten im Vergleich zu dem Maß an Phantasie, das die Mehrheit der Klasse demonstrativ in die Waagschale wirft. Die Versicherung betrügen, Organe verkaufen, töten — auch das sind offensichtlich Optionen. „Man könnte auch alte Leute pflegen“, regt Höller an. Seine Schützlinge lachen — ahnen sie doch, dass der Einwurf übertrieben gemeint sein dürfte.
Es gibt einen anderen Vorschlag: Ein Schüler schleicht sich von hinten an eine Klassenkameradin und hebt ein nicht vorhandenes Messer. Das Publikum reagiert prompt: „Das heißt wohl, dass sie die Mutter ist und kocht. Er ist der Sohn und sauer. ,Nicht schon wieder Spaghetti!’, denkt er.“ Keine Frage: Die Schüler haben Blut geleckt. Und am Ende schaut keiner mehr auf die Uhr.