Tanztheater Pina Bausch Uraufführung von Daphnis Kokkinos - Medea und Maria – zwei Betrogene
Wuppertal · Underground heißt das Format, mit dem das Tanztheater Pina Bausch seinen Tänzern die Möglichkeit gibt, eigene Produktionen spartenübergreifend an außergewöhnlichen Spielorten zu erschaffen. Am Wochenende gab es die Uraufführung von Daphnis Kokkinos im oberen Pavillon des Skultpurenparks.
Zum Schluss blicken die Frauen, Männer und Kinder auf ein Tohuwabohu aus durcheinander gewirbeltem Papier, umgekippten Stühlen, Kleidungsstücken. Ein ernster Blick von draußen ins Innere der gläsernen Halle. Dort sitzt das Publikum, lauscht alleingelassen der Stimme von Maria Callas, die eine Arie singt. Jene legendäre Sopranistin, deren Leben und deren Verkörperung der Medea Ideengeber der Aufführung sind, die gerade zu Ende gegangen ist.
Ein neues Stück, das der Pina Bausch-Tänzer und Choreograph Daphnis Kokkinos geschaffen hat. Ihm zur Seite Tänzerinnen der Compagnie und der Künstler Nikos Floros, der am Wochenende im oberen Glaspavillon des Skulpturenparks seine „Sculptured Costumes Maria Callas“ zeigte und neue Kostüme für die choreographische Intervention von Kokkinos schuf.
Underground heißt das Format, mit dem das Tanztheater Pina Bausch seit 2013/14 seinen Tänzern die Möglichkeit gibt, eigene Produktionen spartenübergreifend an außergewöhnlichen Spielorten zu erschaffen. Spätestens seit Wim Wenders Film „Pina“ ist Tony Craggs Skulpturenpark mit seinen architektonischen Hallen-Schönheiten bei den Tänzern sehr beliebt, nun ist Underground erstmals Gast.
Der 1965 in Heraklion (Kreta) geboren Daphnis Kokkinos ist seit 1993 im Ensemble, arbeitete seit 2002 zugleich als künstlerischer Assistent von Pina Bausch. Der Tanzpädagoge ist in Wuppertal wie international tätig, sein etwa 75 Minuten langes Stück ist nicht sein erstes. Sein Heimatland Griechenland spielt darin gleich in mehrfacher Hinsicht eine Rolle. Thematisch, indem es an der Geschichte der griechischen Mythengestalt Medea und deren Verkörperung durch Maria Callas in Luigi Cherubinis Oper „Médée“ (1797) anknüpft, die in den 1950er Jahren Vorbildcharakter erlangte. Hinzu holte sich Kokkinos den griechischen Künstler Nikos Floros, der durch Medea/Callas inspirierte prunkvolle Objekte und Bilder schuf, die er im Pavillon ausstellte, so zugleich ein glitzerndes Bühnenbild lieferte.
Diese Frauen stehen für Tragödie, für Liebe und Verzweiflung, Betrug und Rache – es gebe etliche Parallelen im Leben der Medea und der Callas, erzählt Nikos Floros und führt beide in seinen Kunstwerken zusammen. „Beide haben Ähnlichkeiten, handelten aus Liebe“, erklärt er und freut sich über die interessante Symbiose seiner Kunst mit der Tanz-Kunst. Julie Shanahan und Tsai-Chin Yu geben den großen Frauen mit ihren Körpern Ausdruck.
Verzweifelte Bewegungen, Umarmungen, Abgrenzungen, unlösbare Probleme – das goldene Vlies (auch dieses hat Floros aus Aluminiumfäden zu einem Kunstwerk gesponnen) der Sage legt die eine der anderen wie ein Baby in den Arm, verkriecht sich später auf dem Boden darunter. Floros hat außerdem eine Herz-Krone und ein Mieder gefertigt, das aus einem, an Venen erinnernden Schlauchgewirr besteht. Vieldeutige Symbole der Leben gebenden und nehmenden Frau. Gemeinsam mit dem Kurator seiner Schau, Aristoteles Karantis, legt er die Kunstwerke Shanahan in einer Szene an.
Rasenfläche neben dem Pavillon wird zur Bühne
Wie in der Sage spielen auch bei Kokkinos Kinder, sechs Mädchen der Griechischen Grundschule Wuppertal, eine Rolle. Shanahan will mit ihnen wegfliegen, Tsai-Chin Yu führt sie in einer feierlich-schrägen Prozession in die Halle, Kokkinos spielt mit ihnen Fangen, nachdem sie das Goldene Vlies „gestohlen“ haben. Dabei (wie auch in anderen Szenen) wird die Rasenfläche neben dem Pavillon zur gerne genutzten Bühne.
Die Aneinanderreihung der eindringlichen und ausdrucksstarken Bilder, die mal ganz still, mal mit aufbrausenden Windgeräuschen untermalt, mal durch Max Latarjet (Gesang) und Osia Toptsi (Klavier), mal durch Musik vom Band begleitet werden, lässt Erinnerungen an Pina Bausch wach werden. Desgleichen der Sinn für absurde wie humorige Momente, der bei aller Tragik nicht zu kurz kommt: Kokkinos greift zum Dampfbügeleisen und bittet lächelnd Aristoteles Karantis, sich Stück für Stück auszuziehen, damit er seine Kleidung in Form bringen kann.
Das Publikum bejubelt eine weitere Underground-Aufführung, die den Wunsch nach mehr geweckt hat.