Theater als Puzzle: Spurensuche für Mitdenker
Da wirft das Zuschauen Fragen auf: „Rost“ ist kein konventioneller Schauspiel-Abend.
Wuppertal. Soll man die eigenen Liebesbriefe zerreißen — oder lieber die, die man selbst bekommen hat? Das ist nicht die einzige Frage, die sich im Kleinen Schauspielhaus stellt. Antworten freilich gibt es keine. Denn die muss bei „Rost“ jeder selbst finden.
Und so ist das Leben womöglich auch gar kein Quiz, wie Hape Kerkeling einst fröhlich-singend postulierte, sondern viel eher ein Puzzle, das sich aus vielen Einzelaspekten zusammensetzt. So gesehen ist es ein treffendes Bild, das Regisseurin Anne Hirth in ihrem Stück über Verfall, Tod und Archivarbeit findet: Ihre Schauspielerinnen wirken wie eine Mischung aus Sekretärin und Pathologin, sitzen auf einem Bürostuhl (oder doch an einem Seziertisch?), haben ein Puzzle vor sich liegen und versuchen, ein Teil an das andere zu fügen. Was spielerisch wirkt, offenbart alles andere als die Leichtigkeit des Seins.
Genau das ist die Qualität, aber auch das Problem der Inszenierung: Wer eine klare Aussage finden möchte, sucht sie in Elberfeld vergeblich. Was er in seinem Leben verpasst hat oder noch erreichen möchte, muss schon jeder für sich selbst entscheiden. Und so kann, darf oder muss der Zuschauer den 90-minütigen Szenenreigen auch für sich selbst zusammensetzen — wie ein Puzzle.
Das kann eine reizvolle, individuelle Herausforderung, im Einzelfall aber auch eine langatmige Reise ins Nirgendwo sein. Denn viele Schlaglichter werden angerissen, aber nicht weiter verfolgt. So gleicht „Rost“ an weiten Stellen eher einem Potpourri lose aneinandergereihter Gedankenfetzen als einer straff durchstrukturierten Handlung.
„Rost“ ist mehr Performance als Sprechtheater. Es dauert fast 15 Minuten, bis das erste gesprochene Wort den Raum erfüllt. Zuvor kann das Publikum behutsam leisen Klängen (Musik: Ralf Haarmann) lauschen, die an Wassertropfen in einer Höhle erinnern, oder die Kulisse mustern (Bühne und Kostüme: Alexandra Süßmilch), die sich als gelungene Kreuzung zwischen Arche Noah und Archivräumen entpuppt. Eine Schiffsspitze zeigt nach links, ausfahrbare Regale bahnen sich den Weg frontal nach vorne — in Richtung Zuschauer. Die schließlich dürfen sich zu fragwürdigen Gedanken animieren lassen: Welcher Spielfilm wurde für die Ewigkeit geschaffen, welches historische Ereignis war bahnbrechend? Was soll von uns bleiben, was kann entsorgt werden?
Dabei ist das Entrümpeln von Briefen nur eine Variante — auf jeden Fall eine, die zeigt, dass die Gegenwart schnell zur Vergangenheit werden kann. Denn Worte können Balsam für die Seele sein, aber auch schmerzhafte Erinnerungen in sich tragen. Was wirft man deshalb besser in den Müll: den eigenen Liebesschwur oder den des Abtrünnigen?
Immer wieder treten An Kuohn, Silvia Munzon López und Juliane Pempelfort vor ein Mikro und sprechen kurze Texte, von denen man mehr hören möchte. Immerhin: Die Damen sind mit großer Spielfreude bei der Sache — allein Ralf Haarmann merkt man an, dass er mehr Musiker als Schauspieler ist.
Wie ein Puzzeleteil durchaus in das andere greifen kann, wird deutlich, wenn das Frauentrio immer lauter durcheinander spricht. Es ist eine der besten Szenen, obwohl es auch hier keinen verbindenden roten Faden gibt — zumindest nicht auf den ersten Blick. Die Kontinentalverschiebung, das Attentat auf Hitler, die Geschichte Korsikas: All das wird kurz angeschnitten, aber nicht weiter ausgeführt. Am Ende fehlt der große dramatische Spannungsbogen. Zu oft wird der Zuschauer mit seinen Assoziationen allein gelassen.
Was also bleibt? Die womöglich schnell verblassende Erinnerung an einen Abend, der durch leise Töne wirken soll, aber mehr Dynamik vertragen könnte. Vom Premierenpublikum gab es dafür viel Applaus: Bei den Gästen — zu denen am Samstag viele Theatervertraute und Kollegen gehörten — kam das ruhige, nachdenklich stimmende Stück sehr gut an.
“ Die nächsten Aufführungen finden am 30. September und 1. Oktober jeweils um 20 Uhr statt. Karten gibt es unter Telefon 569 4444.