Wenn der Kuckuck heimlich an der Uhr dreht
„Der Lebkuchenmann“ ist ein Erlebnis – vor wie hinter der Bühne.
Wuppertal. An den Wuppertaler Bühnen ticken die Uhren anders. Sie arbeiten sozusagen im Handumdrehen. Für Holger Irrmisch, der im Rampenlicht nur "Herr Kuckuck" heißt, ist es deshalb fünf vor zwölf: Kurz bevor sich im Schauspielhaus der Vorhang hebt, überprüft Irrmisch sein wichtigstes Markenzeichen.
Die Uhr, die zu Herrn Kuckuck gehört wie seine Haartolle und Hornbrille, muss manipulierbar sein. Nicht auszudenken, was wäre, wenn sich die Zeiger nachher, während der Vorstellung, kein bisschen von ihrem Standpunkt entfernen und sich nicht einen Zentimeter nach vorne bewegen, während "Der Lebkuchenmann" eine aufregende Nacht erlebt. Irrmisch wird deshalb nachhelfen und heimlich an der Uhr drehen - was das Publikum im Idealfall gar nicht mitbekommt, ist echte Handarbeit.
Damit sie zum gewünschten Ergebnis führt, testet der Schauspieler schon einmal, ob sich die Zeiger leicht drehen lassen. Perfekt! Der Mann mit der Götz-Alsmann-Frisur verschwindet in seinem Kuckuckshäuschen, wie man eben so huschen kann, wenn man mit skurrilen, aber eher unpraktischen Plüschtier-Pantoffeln eine kleine Treppe hoch muss, und wartet im schrägen Outfit auf seinen großen Auftritt.
Im Schauspielhaus ist es kurz vor Mitternacht und trotzdem erst kurz vor zehn: In der 10-Uhr-Vorstellung warten vor allem Schüler darauf, dass (auch) andere Theater machen. "Am Wochenende, in den Familienvorstellungen, halten sich die Kinder zurück. Aber vormittags, in den Schulaufführungen kennen sie keine Gnade. Da müssen die Darsteller viel improvisieren", sagt Regieassistent Lauren Schubbe mit einem Schmunzeln. Keine Frage: Wer zu den Bösen zählt, wird ausgebuht - gerade dann, wenn er ein guter Schauspieler ist.
Es ist nicht zu überhören: Der heisere Kuckuck hat seine Stimme verloren, dafür haben seine jungen Zuschauer ihre noch. Und so wird lautstark gewarnt ("Achtung, da kommt die gemeine Maus!"), gejubelt und gelacht. Höhnisch natürlich, denn wenn der griesgrämige Teebeutel (An Kuhon) weint, erweicht das kein einziges der jungen Herzen im ansonsten durchaus bewegten Zuschauersaal. Turbulent wird’s im Publikum vor allem dann, wenn Flitz, die Mafia-Maus (Maresa Lühle), mit einem Löffel zuschlagen will und die anderen Küchenbewohner jagt. "Die Verfolgungsszenen sind total beliebt", weiß Schubbe. "Da gibt’s die stärksten Reaktionen."
Auch Lühle reagiert: Als sie eine kurze Pause hat, flitzt sie flink wie die Maus, die sie spielt, an Schubbe vorbei, ruft ihm im Flüsterton Entscheidendes zu ("Bin kurz in der Maske, mein Schnurrbart hält nicht!") und ist keine zwei Minuten später wieder da. Lühle nimmt’s gelassen, sie ist tierisch flexibel und Einiges gewohnt. Als Maus hat sie schon mal einen Schwanz verloren - ein Kollege war draufgetreten. Kein Grund, um alt auszusehen: In der Pause gab’s dafür einen neuen.
Auch das sehen die Gäste nicht: Im Eierbecher, in dem Frau Salz und Herr Pfeffer mit einem riesigen Rührlöffel eine dampfende Arznei zusammenmischen, versteckt sich eine Nebelmaschine. Sie wird per Fernbedienung aktiviert. Eine rührende Szene - im wahrsten Sinne des Wortes.
Auch Irrmisch schlägt jetzt zu. In Momenten wie diesen sorgt er leise, still und heimlich für Zeitsprünge. "Die Uhr wird immer dann weitergestellt, wenn die Aufmerksamkeit gerade woanders liegt", erklärt Schubbe. Denn die Zeit drängt: In nicht einmal 80 Minuten erleben die Zuschauer eine ganze Nacht voller Pointen und Phantasie. Um 11.14 Uhr wissen sie deshalb, was die Uhr geschlagen hat: Es ist 8 Uhr morgens und die Welt ist wieder in Ordnung - zumindest für den Kuckuck, der seine Stimme wieder gefunden hat und die Plüsch-Pantoffeln wieder ausziehen kann.