Letzte Veranstaltung des Jahres Literarische Teezeit widmete sich im Wuppertaler Skulpturenpark einem Werk von Michael Zeller

Wuppertal · Von einer Lebensbeichte und den kleinen Nischen des Glücks.

Schauspieler Olaf Reitz (hinten) nahm im Café Podest die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer ein.

Foto: Cem Senyigit

Bei der letzten Literarischen Teezeit des Jahres stand ein Autor im Mittelpunkt, der sonst im Hintergrund für die Lesereihe wirkt. Am Freitag war die Abschlussveranstaltung im Café Podest des Skulpturenpark Waldfrieden. Die Gelegenheit für Moderatorin Anne Linsel, den rund 40 Gästen Michael Zeller als den Kurator der Teezeit vorzustellen. Dass der Schriftsteller sich seit elf Jahren um die Auswahl der Texte kümmert, war ein Grund für die Hommage. Ein weiterer war der 80. Geburtstag, den Zeller Ende Oktober feierte.

„Von Frauen und Männern“ hieß das Motto der diesjährigen Veranstaltungen, die Geschichten aus vier Ländern und rund 100 Jahren versammelten. Mit Jack London und Katherine Mansfield wurde der anglo-amerikanische Sprachraum erkundet und bei Ivo Andrić gab es einen Abstecher nach Kroatien. In diese Reihe fügte sich Zellers eigener Text „Der Schüler Struwe“ gut ein, der den Leser mitnimmt in die alte Bundesrepublik. „Einen Menschen beschreiben heißt, auch seine Zeit zu beschreiben“, so Linsel.

Die 2009 veröffentlichte Erzählung setzt mit Erinnerungen des Ich-Erzählers Schobert an seinen Klassenkameraden Struwe ein. Beide drücken in den Fünfzigerjahren die Schulbank, und Struwe ist der Außenseiter schlechthin: kurzsichtig, durchschnittlich begabt – und in seiner altmodischen Kleidung wirkt er auf seine Umgebung wie „ein Gespenst der Vorzeit“. Jahrzehnte später führt der Zufall Schobert und Struwe wieder zusammen.

Mit Olaf Reitz stand der denkbar beste Interpret der Geschichte am Lesepult. Der Wuppertaler Schauspieler leiht unter anderem Radioformaten, Filmen und Hörbüchern seine Stimme. Wer ihn live erlebt, hat das größte Vergnügen von allen. Plastisch arbeitete Reitz die gegensätzlichen Charaktere heraus. Als Schobert zählte er in vollem Brustton die Marotten seines Mitschülers auf, untermalte seine Ausführungen mit Kopfschütteln und wegwerfenden Gesten. Struwe gab er eine höhere Stimmlage und eine nervöse, sich beinahe überstürzende Artikulation.

Beim Gespräch der Erwachsenen kommt Bewegung in die alte Schulfreundschaft. Schobert, inzwischen Historiker für Neuere Geschichte, erfährt zum ersten Mal von Struwes Familienverhältnissen. Auf einem langen Spaziergang an der Ostsee berichtet dieser vom Aufwachsen ohne Vater, der im Krieg gefallen ist. Die Rede ist auch von der Mutter, die mit dem Aufziehen ihrer Kinder überfordert ist. Von der Tante, die anstelle der Mutter den kleinen Struwe mit tyrannisch-strengen Maßnahmen zu erziehen versucht.

Die Lebensbeichte trug Reitz mal im Plauderton, mal abgeklärt-sachlich vor. Der Zuhörer fühlte sich direkt angesprochen, so als liefe man neben den beiden Protagonisten am Strand entlang. Ähnlich verblüfft wie der Erzähler hörte man schließlich, wie sich die Randexistenz Struwe dennoch kleine Nischen des Glücks geschaffen hat. Riesenapplaus für den Vorleser.

Dank Anne Linsels Einführung konnte das Publikum die autobiografischen Spuren des Textes leicht erkennen. Den ersten Handlungsort Marburg kann der Autor schon deshalb anschaulich beschreiben, weil er hier in den 1960er-Jahren unter anderem Literatur studierte. Dass sich Schobert und Struwe in Thomas Manns Geburtsstadt Lübeck treffen, passt zur Arbeit über den Literaturnobelpreisträger, mit dem Zeller 1974 promoviert wurde.

Wer nach der Lesung am Büchertisch selber in den Text schaute, erfuhr die näheren Zusammenhänge. In einer „Nachschrift“ berichtet Zeller von einem verstorbenen Mitschüler. Die Erzählung „Der Schüler Struwe“ stütze sich auf dessen Erinnerungen und führe sie „weiter in eine imaginierte Gegenwart hinein“.

Zuletzt sprach Anne Linsel über die Zukunft der Literarischen Teezeit, die gemeinsam vom Literaturhaus Wuppertal und vom Skulpturenpark Waldfrieden veranstaltet wird. Sie hoffte, dass die Reihe im kommenden Jahr fortgesetzt wird. „Ich kann es aber nicht genau sagen“, betonte Linsel. Eine neue Geschäftsleitung werde die Verantwortung für den Skulpturenpark übernehmen, und dieser Wechsel an der Spitze müsse abgewartet werden.