Der Sportler der Woche Der Ultramarsch zum Lebensglück
Wuppertal/St. Petersburg · Jannik Giesen ging von Wuppertal nach St. Petersburg zu Fuß - 3000 Kilometer in 58 Tagen.
„Der Weg ist das Ziel.“ Das scheint eher Lebensweisheit als Motto im Sport, wo es doch meist ums Gewinnen geht. Doch für Jannik Giesen gilt es uneingeschränkt. Dabei sind die sportlichen Leistungen, die der 30-Jährige immer wieder vollbringt, für die meisten unfassbar. 3000 Kilometer zu Fuß von Wuppertal nach St. Petersburg lautete das jüngste Ultraprojekt des Extremwanderers. Aber als er dort am 2. September nach 58 Tagen ankam, machte er keine Freudensprünge. „Da war kein besonderes Glücksgefühl, als ich die Auferstehungskirche erreichte, um, wie geplant, noch ein paar Aufnahmen für meine Facebookseite zu machen“, berichtet Giesen zurück in der Heimat. „Erst Abends, als ich im Bett gelegen habe, habe ich mir gesagt, ,yeah’, morgen muss ich nicht wieder los.“ Der Weg war das Ziel.
Beine hochlegen, wieder zu Kräften kommen ist seitdem angesagt, schließlich hat er auf der Strecke bei Tagesleistungen von durchschnittlich 60 Kilometern (er hatte nur sechs Ruhetage eingelegt) zehn Kilo abgenommen. 7000 bis 8000 Kalorien Tagesverbrauch zeigte sein Laufcomputer an. So viel konnte er unmöglich zu sich nehmen, zumal er meist nur abends gegessen hat, was reingeht. Das hieß also leben von der Substanz. Doch, auch wenn Giesen jetzt froh ist, die Speicher wieder auffüllen zu können, ist schon jetzt klar, dass es nächste Projekte geben wird.
„Ich mache es gern, es ist Teil meines Lebensglücks“, sagt er zu seinen Erfahrungen mit Ultramärschen, die für ihn 2014 begannen. „Ich hatte damals Lust, mal auszuprobieren, ob es geht, 1000 Kilometer in 20 Tagen zu schaffen. Ein Freund, der Sportwissenschaftler ist, hat gesagt, das geht nicht. Da habe ich es versucht und geschafft.“ Mit 20 Kilo Gepäck einmal rund um den kontinentalen Teil von Dänemark lautete damals das Projekt, das er zur Hälfte mit seinem Bruder absolvierte. Doch so ganz passte das nicht, weil der eine eher weniger, der andere eher mehr machen wollte. Und so ist Jannik Giesen bei seinen weiteren Touren - 2015 von Köln nach Nordschottland, 2017 von Venedig nach Köln mit Alpenüberquerung stets allein unterwegs. Den Namen Lone Wolf - einsamer Wolf - hat er sich selbst auf seiner Facebookseite gegeben, was allerdings nur für seine Trips gilt. Zu Hause wartet die Freundin, da ist er auch Familienmensch, und er ist eloquent und kontaktfreudig, hat noch immer Kontakt zu Menschen, die ihn auf seinen Touren zwischendurch beherbergten.
Die berufliche und finanzielle Freiheit hatte der Betriebswissenschaftler als Unternehmensberater durch ein flexibles Arbeitszeitmodell mit seinem Arbeitgeber. Nach vier Jahren hat er allerdings gekündigt, will jetzt etwas anderes machen – vielleicht in die Richtung Wandern und Tourismus. Zeit genug, sich darüber Gedanken zu machen, hatte er auf seiner Russland-Tour. „Doch es ist nicht so, dass du dich die ganze Zeit damit beschäftigst“, sagt Giesen, mehr komme man in einen Zustand der Meditation.
Auch wenn er wegen Knieproblemen, hervorgerufen durch eine Schonhaltung wegen einer Blase am kleinen Zeh, schon in Dresden eine dreitägige Zwangspause einlegen musste, war ihm früh klar, dass er die 3000 Kilometer schaffen würde. „Ich hatte immer noch Reserven“, sagt er. Noch so ein Satz, der für andere unfassbar ist. Fast größer als die körperliche, sei die psychische Belastung gewesen. „Wie geht der Weg, der hier zu enden scheint, weiter? Wie komme ich über den Fluss mit der eingestürzten Brücke? Warum reagieren die Menschen aggressiv, wenn ich ihr Angebot ablehne, mit dem Auto mitgenommen zu werden? Klappt es abends mit der Couchsurfing-Verabredung, die via Facebook getroffen wurde? Eine davon hat ihn in Russland gerettet, als er in einer Verbotszone hinter der Grenze zu Estland mit seinem Handy an einem Atomkraftwerk vorbeimarschierte und festgenommen wurde. Niemand sprach Deutsch oder Englisch, doch die telefonisch kontaktierte Gastgeberin sorgte für Aufklärung und Giesens Entlassung nach vier Stunden im Knast zusammen mit der ein oder anderen Schnapsleiche (es war Samstagabends).
All das kann er jetzt Revue passieren lassen, vielleicht mal ein Buch drüber schreiben. Und seine nächste Idee? Vielleicht in Richtung Ultralauf gehen. Der „Kölnpfad“ etwa: 171 Kilometer in 24 Stunden. Der Weg ist das Ziel gilt dann nicht allein.