Montero beherrscht die Improvisation
Pianistin Gabriela Montero hatte ein wenig mit dem Flügel in der Stadthalle zu kämpfen, zeigte letzten Endes aber ihre große Klasse an den Tasten.
Wuppertal. Jeder Musiker spielt auf seinem eigenen, ihm lieb gewordenen Instrument, das er ganz genau kennt. Man spricht sogar davon, das er mit ihm verheiratet ist. Jeder? Nicht ganz. Pianisten können einem manchmal leidtun. Denn auf Tourneen steht ihnen bei jedem Konzert ein anderer Flügel zur Verfügung. Abgesehen von einer Handvoll Stars, die mit ihrem eigenen reisen dürfen, kann dieser Umstand für die anderen zu einer heiklen Angelegenheit werden. Denn alle Tasteninstrumente klingen anders. Die Anschlagsstärke der Klaviatur und die Intonation sind bei jedem Instrument verschieden. Der für die jeweilige Veranstaltung zuständige Klavierstimmer versucht zwar immer, den Wünschen der Interpreten gerecht zu werden. Er sticht in die Hammerköpfe oder feilt an dem Anschlagsdruck der Tasten. Doch hin und wieder kann einfach nur ein Kompromiss dabei herauskommen.
Solch eine Vermutung kam auf, als man Gabriela Montero in der ersten Konzerthälfte und während ihrer Zugabe zuhörte, als sie im Rahmen des Klavier-Festival Ruhr am Konzertflügel der Stadthalle im Großen Saal gastierte. Die zwei berühmten romantischen Werke klangen nämlich nicht immer nuanciert genug: Franz Schuberts vier Impromptus D899 und den aus kleinen Charakterstücken bestehende Zyklus „Carnaval“ op. 9 von Ro-bert Schumann. Etwa perlten die leise gespielten schnellen Läufe des zweiten Impromptus nicht richtig wie auch die Arpeggien (gebrochenen Akkorde) des Schlussstücks, dessen ersten Töne nicht hörbar waren. Generell war bei Schubert die Gewichtung der Melodieverläufe im Diskant höher als die wichtigeren Basslinien beziehungsweise -noten. Auch die Herausarbeitung von Haupt- und Nebenstimmen ge-rade bei schnellen Abschnitten in Schumanns Opus war nicht deutlich genug. Und die ostinatohaft pochenden Töne im Bass im „Regentropfen-Prélude“ (op. 28 Nr. 15) in Des-Dur Frédéric Chopins als Zugabe waren ein wenig zu leise. Dennoch wusste Montero mit einer hochromantischen Klang-gestaltung zu begeisterten.
Hauchzarte Pianostellen alternierten hoch spannend mit fest zupackenden kraftvoll-lauten Teilen. Sensibel arbeitete sie die gleitenden Dynamiken heraus. Sehr geschmackvoll waren auch ihre Rubati (Veränderung von Tondauern und Taktgewicht). So gelang es ihr, eine große Spannung zu erzeugen, die sich voll auf das Publikum übertrug. So mucksmäuschenstill war es zwi-schendurch, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Man kann diese Kompositionen von Schubert und Schumann als eine Art von Improvisationen verstehen, nehmen doch etliche Abschnitte daraus solche Züge an. Und das freie Improvisieren war bis zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in der Klassikszene en vogue. Es war etwa bei Hauskonzerten und in Salons üblich. Oder die Kadenzen in Orchesterkonzerten boten Gelegenheit zur freien Entfaltung. Davon wird gelegentlich auch heute noch Gebrauch gemacht.
Montero ist eine Spezialistin auf diesem Gebiet, hat diese Kunst nach knapp 100 Jahren aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt. Aus dem Stegreif demonstrierte sie fünfmal ihre ganz große Klasse. Spontan reagierte sie auf Publikumswünsche. „America“ aus Leonard Bernsteins Musical „West Side Story“ war genauso dabei wie Scott Joplins Ragtime „The Entertainer“. Mit traumwandlerischer Sicherheit bewegte sich die Pianistin in ihren Improvisationen darüber, beispielsweise in romantischen Stilen à la Schubert, Schumann, Chopin und modernen Gestaltungsformen.
Als dann auch noch der Hit „Summertime“ aus der Oper „Porgy and Bess“ von George Gershwin nach Art von Johann Sebastian Bach daherkam und sie damit jazzig endete, gab es im Auditorium keinen Halten mehr. Jeden riss es von den Sitzen. Ausgiebig waren die stehenden Ovationen.