„Ohne Kirche wäre die Stadt an Menschlichkeit ärmer“
Die Oberhäupter der christlichen Kirchen über sinkende Mitgliederzahlen und die Bedeutung von Kirche.
Wuppertal. Nur noch rund 23 Prozent der unter 18-jährigen Wuppertaler sind Mitglied der evangelischen und 19 Prozent der katholischen Kirche. Warum lassen immer weniger Eltern ihre Kinder taufen?
Superintendentin Ilka Federschmidt: Der Anteil der Familien mit ausländischer Herkunft nimmt offenkundig zu. Aber darauf lässt sich das Thema nicht reduzieren. Hier erleben wir deutlich einen Traditionsabbruch. Früher war es selbstverständlicher, dass Eltern ihre Kinder taufen ließen; heute ist das nicht mehr so.
Stadtdechant Bruno Kurth: Früher wurde diese Tradition nicht hinterfragt. Heute ist vielen Menschen die Bedeutung der Taufe nicht mehr bewusst. Sie wissen nicht, dass wir durch dieses Sakrament zu Christus und zur christlichen Kirche gehören.
Was können Sie dagegen tun?
Kurth: Wir müssen viel mehr bei der Glaubensverkündigung die Erwachsenen in den Blick nehmen. Wir probieren neue Wege einer missionarischen Pastoral aus. Ohne überzogenen Eifer geht es doch um die Überzeugung, dass es gut für den Menschen ist, an Jesus Christus zu glauben.
Federschmidt: Der Zugang zur Kirche geschieht oft über andere Menschen und ihre Beziehung zum Glauben. Da ist der Presbyter, der an seinem Arbeitsplatz einen christlichen Jahreskalender aufgestellt hat und darüber mit den Kollegen ins Gespräch kommt. Oder ein gläubiger Politiker bemerkt, dass er aufgrund seines Glaubens im Wahlkampf eben nicht sprichwörtlich über Leichen gehen kann. Wir brauchen lebendige Gemeinden, in denen jeder seinen Glauben vermittelt und im Alltag dazu gesprächsbereit und sprachfähig ist. Kurth: In den Gemeinden wächst die Nachdenklichkeit über die verschiedenen Möglichkeiten, die alle Christen haben, glaubwürdig Zeugnis zu geben. Dazu gehört die Bereitschaft, über den eigenen Glauben auch mit anderen zu sprechen. Das ist nicht allein die Aufgabe der vermeintlichen „Glaubensprofis“.
Ihre Beispiele funktionieren aber nur, wenn die Menschen der Kirche gegenüber grundsätzlich offen sind. Was ist mit denjenigen, denen sie vollkommen egal sind?
Federschmidt: Über die Citykirchen in Elberfeld und Barmen können wir einen Bezug zu Gott schaffen. Besucher trinken dort einen Kaffee und betreten dann den Kirchenraum. Auch im Religionsunterricht etwa in der Berufsschule kommt das Thema zur Sprache. Trauerfälle oder Beerdigungen sind ebenfalls Anlässe, bei denen es zu Schnittstellen mit der Kirche kommt. Unsere Aufgabe ist es, auf die Menschen zuzugehen.
Kurth: In die offene Kirche St. Laurentius zum Beispiel kommen viele Menschen, ohne zur Kirche zu gehören. Außerdem nutzen wir Kontaktangebote über das Pfarrleben hinaus, wie etwa das Internet oder Videopodcasts. Federschmidt: Es gibt Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, um die sich die Kirche zu wenig gekümmert hat. Etwa um Arbeitslose oder Alleinerziehende. Von denen bekommen wir manches Mal die Rückmeldung, dass sie sich bei uns nicht eingeladen fühlen. Die bildungsfernen Schichten bekommen nicht immer einen leichten Zugang zu uns. Wo bietet sich die Gemeinde als Gemeinschaft an, die die Schwachen trägt? Diese Fragen müssen wir uns selbstkritisch stellen. Diakonie und Caritas haben da eine wichtige Vermittlungsposition.
Ist die Kirche noch relevant für die Gesellschaft?
Kurth: Wuppertal wäre ohne das, was Kirche direkt oder mittelbar leistet, an Menschlichkeit ärmer. Wollen wir beispielsweise, dass die Krankenhauslandschaft allein von einem einzigen Konzern bestimmt wird, der als AG an der Börse agiert? Sollen Pflegedienste ausschließlich von kommerziellen Prinzipien gelenkt werden? Private Anbieter müssen anders rechnen und haben oft weniger Zeit. Wir lehnen keinen Pflegefall ab, weil der Weg zu ihm zu weit ist und sich nicht rechnen würde. Kirchliche Kindergärten und konfessionelle Schulen sind stark gefragt auch von Wuppertalern, die nicht den Kirchen angehören.
Federschmidt: Für Seelsorge z.B. in Altenheimen oder pastorale Arbeit in den Kindergärten werden Kirchensteuern eingesetzt. Wir kümmern uns um gesamtgesellschaftliche Aufgaben mit einem eigenen Akzent und vor dem christlichen Menschenbild und der Würde des Menschen vor Gott. Kirche ist außerdem in der niederschwelligen und unentgeltlichen Beratungsarbeit relevant. In Krisensituationen oder wenn es um den Tod geht, rufen die Menschen bei uns an. Da ist unser Vertrauenskredit nach wie vor sehr hoch.
Kirche steht für einen bestimmten Wertekanon. Werden diese Werte mit dem Rückgang der Kirchenmitglieder geschwächt?
Kurth: Wer sich mit Gott und dem Glauben intensiv und ehrlich auseinandersetzt, der lebt nach einer bestimmten Moral und Mitmenschlichkeit, davon bin ich überzeugt. Aber ich möchte Kirche nicht auf eine Instanz reduziert sehen, die den moralischen Pegel der Gesellschaft hochhält. Das können wir alleine nicht leisten.
Federschmidt: Kirche erfüllt eine wichtige „Wächterfunktion“. Bestimmte Werte im Zusammenleben haben eng mit dem christlichen und jüdischen Glauben zu tun und sind in die Grundgesetzte eingeflossen. Aber Kirche selbst ist weder immer ein Hort des Rechtes und der Toleranz gewesen, noch kann sie es diktieren.