Spurensuche führte nach Israel

Die junge Israelin Liat Winberger besuchte in Barmen das Haus ihrer Urgroßeltern. Heimatforscher Marc-Albano Müller war dabei.

Foto: Müller

Wuppertal. Nathans gibt es zahllos, in den USA, in Israel, in vielen Ländern Europas. Das musste Familie Hillringhaus aus Heckinghausen erfahren, als sie sich vor einigen Jahren auf die Spurensuche machte. Ihre Anfrage bei der Gedenkstätte Alte Synagoge wurde bedauernd abgewiesen. Undenkbar, in der weiten Welt einen bestimmten Nathan ausfindig zu machen, selbst wenn die zugehörige Familie einst in Wuppertal Rang und Namen hatte.

Foto: Müller

Edmund Nathan (1877 - 1937) war um 1930 Geschäftsführer des Barmer Warenhauses Tietz gewesen, einer Filiale der bekannten Leonard Tietz AG. Er warf sich mit einsetzendem Nazi-Terror 1937 in Oberbarmen vor einen Zug. Hatte er Nachkommen? Wer war jener Herr aus Israel, der 2007 einmal überraschend im Heckinghauser Oberwall anklingelte und dann wieder namenlos davonzog, da die Hausbesitzer gerade verreist waren? War es wohl ein Nathan?

Nathans wohnten damals am Oberwall 58, etwa 300 Luftmeter oberhalb der Heckinghauser Straße. Das Nachbarhaus bewohnt bis heute Familie Hillringhaus. „Meine älteren Geschwister haben noch mit den Kindern der Nathans im Garten gespielt“, sagt Carl-Arndt Hillringhaus (75). Es gibt vergilbte Fotos, auf denen noch die kleine Lilo zu erkennen ist, ebenso ihr neun Jahre älterer Bruder Ernst.

Und es gibt noch den mächtigen alten Schrank der Nathans, aus dunkler Eiche mit edlen Einlegearbeiten. Der Schrank überlebte auf wundersame Weise den Luftangriff von Mai 1943, als sämtliche Häuser der nördlichen Straßenseite zerstört wurden, die Südseite hingegen erhalten blieb. Im Keller entdeckten Hillringhauses später einen jener Mauerdurchbrüche, mit denen die Hausbewohner sich im Falle eines Bombentreffers aus einem Keller in den nächsten hinüberzuretten hofften.

Immer hatten Hillringhauses mehr über jene Nathans wissen wollen, die Nachbarn der Vorkriegszeit. Was wurde aus Liselotte und Ernst? Starben auch sie im Holocaust, wie die mehr als 1000 anderen Wuppertaler Juden, auf die das Gedenkbuch der Stadt online hinweist? Die Mutter der Kinder, Clara Nathan (1881-1942), lebte nach dem Freitod ihres Mannes als Witwe und wurde im April 1942 zur Deportation vom Bahnhof Steinbeck bestellt. Ihre Spur verlor sich in den Vernichtungslagern des besetzten Polen.

Jedoch, und das wusste am Oberwall niemand, von Clara Nathan blieben Wertsachen erhalten, vergraben in einem Garten in Schwelm und eingemauert in einem Keller der Schwelmer Potthoffstraße. Hier lebte damals Bäckerstochter Martha Kronenberg, und sie engagierte sich für die Juden ihrer Stadt (Artikel rechts). Eine von ihnen, eine ältere Dame, zog 1939 nach Barmen, worauf Martha ihre Hilfe auch dorthin auszudehnen begann. Im dortigen Oberwall bei Clara Nathan quartierten sich in dieser Zeit immer mehr alleinstehende jüdische Damen ein. Als sie ab 1942 zur Deportation bestellt wurden, versteckte Martha deren zurückbleibende Wertsachen im elterlichen Haus und Garten.

Marthas unerhörte Geschichte kam erst 1989 umfassend ans Tageslicht. Das Forschen in den Unterlagen von Marthas Nachlass, aufbewahrt in der Gedenkstätte Alte Synagoge, beförderte dabei auch ein Schriftstück von 1960 zutage. Es weist auf einen Ernst Nathan hin, wohnhaft in Tel Aviv, sowie auf eine Liselotte Duschinski, geb. Nathan, wohnhaft in London. Also hatten beide Kinder überlebt.

Bei einem ersten Besuch des Oberwalls und spontanem Anklopfen fand Heimatforscher Marc-Albano Müller mit Familie Hillringhaus zusammen, und man stellte das gemeinsame Rechercheziel fest: Nachfahren zu finden. Einen Nathan in Israel aufzuspüren, schien undenkbar, aber Duschinski in England, das wirkte erfolgversprechend. Weit gefehlt! So blieb nur der Weg über eine Fleißarbeit: von so vielen Duschinskis wie möglich die Email-Adresse herausarbeiten, einen nach dem anderen anschreiben, auf gut Glück. Die erste Antwort war schon reichlich entmutigend, eine Nendie Duschinsky informierte, es gäbe zahllose Familien dieses Namens. Das bestätigte die zweite Antwort eines Robbie Duschinsky. Die dritte Antwort kam von Liselottes Sohn Peter.

Über Peter Duschinsky aus London ging der Kontakt zu Michael Nathan aus Tel Aviv. Es erwies sich, dass er der unerkannte Besucher von 2007 am Oberwall war, der Enkel der einstigen Hausbesitzer. Jetzt war auf beiden Seiten, in Israel wie in Deutschland, die Begeisterung groß. Nathans und Hillringhauses planten einen ersten Besuch von Liat Winberger, der Tochter Michaels Nathans, im Haus ihrer Urgroßeltern und Großeltern. Die Jungunternehmerin aus Tel-Aviv war voller Vorfreude. Sie hatte ihren 99-jährig in Israel verstorbenen Großvater Ernst sehr geliebt, jetzt würde sie sein einstiges Zuhause betreten. Schon bei der Annäherung an den Oberwall begannen die Tränen zu fließen. „Der Tod meines Urgroßvaters auf den Gleisen in Barmen wurde in unserer Familie immer als Unfall dargestellt“, erklärte Liat. Es elektrisierte sie, nun zu erfahren, dass das Grab von Edmund Nathan noch auf dem jüdischen Friedhof in Barmen zu finden ist.

Die Besucherin aus Israel erlebte einen begeisternden Tag in Wuppertal und Schwelm. Die Nichte von Martha Kronenberg, Agnes Kronenberg, hatte einen selbst gebackenen Kuchen geschickt. Von der Herzlichkeit des Empfangs inspiriert, wollen in Kürze auch Liats Eltern aus Israel zu einem Besuch anreisen. Ein Dreivierteljahrhundert nach dem Holocaust sind am Oberwall wieder Verständigung und Freundschaft zur Selbstverständlichkeit geworden.