Tafel-Chef: „Nirgends gibt es so viel soziales Engagement wie in Wuppertal“
Seit 2000 ist Wolfgang Nielsen Leiter der Wuppertaler Tafel. Dass er morgen 61 Jahre alt wird, ist für ihn nicht selbstverständlich.
Die Wuppertaler Tafel wächst. Auch die Kindertafel wird erweitert. Können sie sich darüber freuen oder ist es auch ein Dilemma, weil es einem zeigt, dass die Armut anstatt zurückzugehen, wächst?
Nielsen: Die Kindertafel dürfte es gar nicht geben. Es dürfte eigentlich kein Kind hungrig sein. Die Leute müssen aus Hartz IV wegkommen und Arbeit haben. Und zwar Arbeit, von der sie leben können. Hartz IV — der eine kommt mit dem Geld aus, wenn er bescheiden ist. Aber wenn man heute mitleben will, so wie man es in den Medien vorgegaukelt bekommt, will man immer haben, haben, haben, mitziehen. Die Menschen haben manchmal nichts zu Essen, aber ’nen Flachbildfernseher.
Wo steht die Wuppertaler Tafel im nationalen Vergleich?
Nielsen: Ich denke, Wuppertal ist da ganz gut aufgestellt. In den Großstädten Hamburg, Berlin, ist ’ne ganz andere Armut — wesentlich mehr Menschen. Ich weiß, dass viele Tafeln ein bisschen neidvoll nach Wuppertal gucken. Für NRW kann ich sagen: Nirgends gibt es so viel soziales Engagement wie in Wuppertal.
Aber ist eine starke Tafel nicht eher negativ für die Stadt?
Nielsen: Ist das Glas halbvoll oder halbleer? Das ist die gleiche Frage. Ich seh’ das positiv, dass sich hier Menschen gefunden haben, die so etwas machen. Natürlich dürfte es Tafeln gar nicht geben. Eigentlich müsste jeder mit Hartz IV auch klarkommen. Aber das wird nie hinhauen.
Sind amtliche Sozialstatistiken ihrer Einschätzung nach realistisch oder geschönt?
Nielsen: Ich halte von Statistiken überhaupt nichts. Was nützen mir irgendwelche Zahlen? Wir Tafeln, wir brauchen nicht jeden Tag ’ne Existenzberechtigung. Wenn sie zu manchen Einrichtungen gehen, die halten einen Bedürftigen fest, sonst verliert da jemand seinen Arbeitsplatz. Kurz gesagt: Wenn es keine Verbrecher gibt, brauchten wir keine Polizei.
Was genau kann die Tafel tun, damit Menschen irgendwann nicht mehr kommen müssen?
Nielsen: Tafeln haben ja eine ganze Menge bewegt. Bundesweit gibt es fast 900 Tafeln. Heute sind sie gleichberechtigt in der Armutskonferenz. Die Wohlfahrtsverbände hatten gar keine Strategie gegen Armut. Und diese Strategien, die hat die Tafelbewegung entwickelt.
Was kann die Tafel da konkret vorschlagen und tun?
Nielsen: Dass man den Menschen Hoffnung macht. Dass sie nicht verängstigt oder fast verhungernd zu Hause sitzen. Wenn einer ’nen vollen Magen hat, dann tritt er ganz anders auf. Und das kann die Tafel leisten, dass man den Menschen zu essen und ein offenes Ohr gibt. Wir können die Welt nicht verändern, nicht verbessern, wir können aber gucken, dass sie sich in dieser Hoffnungslosigkeit wohler fühlen.
Sind die Spenden, welche die Tafel bekommt, immer brauchbar? Was wird unternommen, damit Supermärkte nicht ihre Reste bei der Tafel abladen?
Nielsen: Bundesweit hat man mit eigentlich allen großen Discountern Verträge abgeschlossen. Ich kann Sachen da lassen, ich muss nicht deren Müll entsorgen. Ich kann mir praktisch das, was für die Tafeln bereit steht, raussuchen. Mittlerweile hat sich da verdammt viel geändert, dass die Tafel gute Lebensmittel bekommt.
Was hat sie bewogen, sich ehrenamtlich sozial zu engagieren?
Nielsen: Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so ’n soziales Riesenrad drehe. Das hat damit zu tun, dass ich zweimal dem Tod von der Schippe gesprungen bin. Ärzte haben mir eine Lebenserwartung von 45 Jahren gegeben. Und wenn man so gesundheitlich gehandicapt ist, dann nimmt man Dinge anders war. Wenn ich heute aufstehe, bin ich Gott dankbar, dass ich aufwachen darf. Früher war es mir wichtig, immer viel Kohle zu verdienen, ein dickes Auto zu haben. Heute ist für mich wirklich wichtig, dass es mir so gut geht, dass ich etwas für Andere tun kann, dass es Anderen besser geht. Man kann ja nichts mitnehmen.
Wie sehen Sie Ihre Arbeit heute?
Nielsen: Spaß macht es nicht, aber Sinn. Die Motivation ist eigentlich stärker geworden. Der Sinn der ganzen Sache ist erst später entstanden. Ich könnte jeden Tag hier schreiend rauslaufen — aber man hat halt mit den Menschen zu tun, und wo Menschen sind, da werden Fehler gemacht. Trotzdem muss man immer wieder aufstehen. So lange die ehrenamtlichen Helfer und Sponsoren zur Tafel stehen, fühle ich mich verpflichtet, weiterzumachen. Wichtig ist, dass man den Menschen Mut macht, zu kommen.