Was glauben Sie denn? „Und bei einem Manne sollst du nicht . . . ein Gräuel ist das“
Wuppertal · 50 Jahre Christopher-Street-Day wird in vielen Städten mit bunten Paraden gefeiert. Zur Sexualität haben Juden ein eher entspanntes Verhältnis. Sie gehört zum Menschen, zumal das erste Gebot, das man durchaus als Segen auffassen kann, lautet: „Seid fruchtbar und mehret euch..“ (1.M.
1,28) Mit der Zeit wurde es aber nötig, dem Menschen einige Weisungen an die Hand zu geben, ihm klar zu machen, dass intime Beziehungen zwischen Verwandten zu unterlassen sind. Das ist bis heute in allen zivilisierten Gesellschaften juristisch geregelt. Schauen wir noch auf den vorhergehenden Vers, 1.M. 1,27: „Und Gott schuf den Menschen in Seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf ER ihn, männlich und weiblich schuf ER sie.“
Die Volkwerdung der israelitischen Stämme war ein schwieriger und langwieriger Prozess. Noch während der Wüstenwanderung lehrte Mosche die Weisungen, die uns bis heute als Richtlinien dienen. In den ersten Versen von 3.Mose 18 wird uns berichtet, dass er das Volk noch einmal eindringlich warnt, sich von den „Gräueln“ der Kanaaniter, die sie schon von den Ägyptern kannten, fernzuhalten. Gemeint war damit die heidnische Tempelprostitution, die von Frauen aber auch von Männern, oft unter Missbrauch von Knaben, ausgeübt wurde. Diese zügellosen heidnischen Sitten sowie der ganze Götzendienst sind dem Ewigen ein „Gräuel“.
Inwieweit die Israeliten der Warnung gehorcht haben, ist uns nicht überliefert. Aber der Ausdruck „Gräuel“ taucht wenig später in Vers 18 wieder auf, als es um eine intime Beziehung unter Männern geht. Einige Kapitel später wird solches Verhalten sogar mit dem Tod durch Steinigung bedroht. Nun muss man wissen, dass eine Todesstrafe erst vollstreckt werden durfte, wenn das Gericht ein Urteil gefällt hatte. Zu einer Verhandlung bedurfte es aber zweier glaubwürdiger Zeugen, die gesehen hatten, dass zwei Männer miteinander intim waren wie mit einer Frau. Es ist nicht bekannt, ob es je zu einem solchen Prozess gekommen ist.
Natürlich war auch unseren Gelehrten nicht entgangen, dass es unter den Menschen einige gab, die nicht eindeutig Mann oder Frau waren, „irritierende“ Neigungen hatten oder auch gar nicht einzuordnen waren. Männern mit „falschen“ Neigungen wurde klar gemacht, dass sie das erste Gebot zu erfüllen und der Erhaltung und Stärkung des Volkes zu dienen hatten. Wenn sie daran keine Freude hatten, war das durchaus ihr Problem. Über viele Jahrhunderte glaubte man, es handele sich um eine Verhaltensstörung und versuchte alles, um diese Männer auf den richtigen Weg zu bringen, schreckte auch vor Exorzismus nicht zurück. Frauen mit lesbischen Neigungen hat man zunächst nicht beachtet, da dies ihre Gebärfähigkeit nicht untergrub. Später wurden aber auch sie als unsittlich angeprangert. Auf jeden Fall galt das Verhalten dieser Menschen als schwere Sünde. Oft wurden sie von ihren Familien enterbt, verstoßen und man trauerte um sie wie um Verstorbene. Wenn sie jedoch auf den „richtigen“ Weg zurückfanden, standen sie wieder unter dem Gebot der Nächstenliebe und durften nicht diskriminiert werden.
Vor allem waren aber auch all diese Menschen im Ebenbilde Gottes geschaffen.
Von Gott können und dürfen wir uns kein Bild machen. Jeder aber ist erst mit dem Geist Gottes zum Menschen geworden. Sofern er/sie keinem anderen Menschen Leid zufügt, haben wir dann ein Recht, über ihn/sie zu urteilen?
Die heidnischen „Gräuel“ erledigten sich weitgehend mit der Verbreitung von Christentum und später dem Islam. Sowohl Päpste als auch Muslime hatten keine Skrupel, den obigen Vers sehr rigide auszulegen. Das färbte im Mittelalter auch auf die jüdische Haltung in ihrem Umfeld ab. So zieht sich eine Unterdrückungs- und Leidensgeschichte dieser Menschen durch die Jahrhunderte. Erst Ende des 19. Jahrhunderts begannen Ärzte wie Magnus Hirschfeld und Iwan Bloch mit der Erforschung aller Aspekte der menschlichen Sexualität, biologisch, pathologisch, soziologisch und ethnologisch und leiteten ein ganz langsames Umdenken ein.
Diese Entwicklung wurde von den Nazis brutal unterbrochen und kostete viele Opfer, auch unter Juden. Inzwischen hat in vielen Ländern ein Umdenken stattgefunden. Seit 1975 hat z. B. das Oberste Gericht in Israel diese Probleme aufgegriffen und ist mit der rechtlichen Gleichstellung dieser Menschen weiter als manches Land in Europa. Natürlich halten streng religiöse Gruppierungen, sowohl jüdische als auch christliche, an ihren Prinzipien fest. Juristisch hat das aber keine Relevanz. Wir sehen in den Medien die knallbunten Gay-Pride-Paraden und dazwischen manchmal auch alte Menschen, die es noch nicht recht fassen können, dass sie das Ende ihrer Leiden noch erleben dürfen.
(Quelle u.a.: „Ethik im Judentum“, hrsg. vom Zentralrat der Juden in Deutschland und vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund).