Offen gesagt Wo bleibt der Aufschrei?
Wuppertal. Manchmal ist Abwarten geboten, der Fairness halber und weil Nachrichten oder Statistiken wie Keulen wirken können. Dann muss jeder, der die Nachricht hört oder die Statistik liest, Zeit haben, sich von dem Einschlag zu erholen.
In der vergangenen Woche hat die WZ über die neuesten Ergebnisse der Bertelsmannstudie berichtet. Sie kommt zu dem Schluss, dass in Wuppertal fast jedes dritte Kind unter 18 Jahren in Armut lebt. Jedes dritte Kind. Armut. In Wuppertal bedeutet das für etwa 16 000 Menschen im Alter von Null bis 18 Jahren keine schöne Kindheit, keine schöne Jugend. Es bedeutet kaum Spielzeug, keine Klamotten von Abercrombie, Hollister oder auch nur H&. Es bedeutet kein Smartphone, kein Sportverein, kein Sommerurlaub mit den Eltern. Es bedeutet kein eigenes Zimmer, es bedeutet, kein Schulfreund kommt mit zum Essen nach Haus. Es bedeutet Peinlichkeit, Einsamkeit.
Für vermutlich viele der 16 000 armen Kinder in Wuppertal ist das Alltag. Und es ist kein Trost, dass Armut in Eritrea schlimmer ist als Armut in Deutschland. Das ist bedrückend und kein Ruhmesblatt für eine Stadt, die von sich sagt, endlich den vierten Gang eingelegt zu haben.
Umso bemerkenswerter ist die Reaktion auf die Studie aus dem Hause Bertelsmann. Es gibt keine. Abgesehen von den Grünen im Stadtrat, die noch mehr Anstrengungen für den Bau von Kindergartenplätzen gefordert haben, ist es still geblieben im Rathaus. Der zuständige Sozialdezernent Stefan Kühn hat auf Nachfrage routiniert seine Botschaften abgespielt, auf die gestiegene Zahl von Plätzen in Ganztags-einrichtungen verwiesen, auf Ganztagsschulen und deren Notwendigkeit dafür, Familie und Beruf zu vereinbaren. Alles richtig. Aber auch Kühn kann nichts bauen, wenn ihm die Politiker dafür nicht das Geld beschaffen und den Auftrag erteilen.
Wuppertal ist trotz der guten Entwicklung der vergangenen Jahre nicht auf Rosen gebettet. Das Haushaltssicherungspaket schmerzt, die Aufgaben werden mehr, das Geld nicht. Aber das entschuldigt nicht, die Nachricht von 16 000 Kindern in Armut regungslos hinzunehmen und zur Tagesordnung überzugehen. Welche Tagesordnung überhaupt?
Den Politikern im Stadtrat sind die Ziele ausgegangen. Die Nordbahntrasse ist in Betrieb, für das Schauspielhaus ist vermutlich eine neue Verwendung gefunden, in der Kultur ist alles wieder gut, der Döppersberg geht auf die Zielgeraden, wenn auch mächtig gerupft.
Aber neue Pläne? Fehlanzeige. Da kommt die schlechte Nachricht aus dem Hause Bertelsmann doch eigentlich wie gerufen. 16 000 arme Kinder sind ein Auftrag. Wer diese Zahl schon nicht aus Mitleid und Fürsorgepflicht senken will, der kann es auch aus wirtschaftlichen Gründen tun. Jedes Kind, das später als Erwachsener nicht von Hartz IV lebt, kostet nichts, zahlt vermutlich Steuern, kauft ein, gibt Geld aus, wohnt in vernünftigen Verhältnissen, nicht im Ghetto von Parallelgesellschaften, trägt dazu bei, dass Wuppertal weiter wächst und gedeiht. Auf dem Weg dahin helfen beispielsweise mehr Bildung, mehr Quartier-Entwicklung, mehr, nicht weniger Schulsozialarbeit — Dinge, die auch Wuppertal sich mit Hilfe des Landes wohl noch leisten kann.
Wer auf 16 000 Kinder und Jugendliche in Wuppertal mit Schweigen und „weiter so“ reagiert, hat erstens offenbar wirklich keinen Plan mehr und setzt zweitens die Zukunft seiner Stadt aufs Spiel.