Forschung an der Uni Auf Spurensuche in alten Geheimschriften in Wuppertal
Wuppertal · Historiker erforschen an der Bergischen Universität verschleierte Botschaften – die Kunst des Dechiffrierens ist zeitaufwendig.
Geschwungene Schriftzeichen, hieroglyphenartige Zeichen und Runen reihen sich aneinander. Alte Briefe aus dem Mittelalter zeugen von wichtigen, geheimen Botschaften, deren Inhalt nur ein bestimmter Empfänger kennen sollte. Doch was steht in den Schriften geschrieben, die für den Laien nur ein Kuddelmuddel aus Schriftzeichen sind? Dem geht Historikerin Jessika Nowak, die am Lehrstuhl von Jochen Johrendt arbeitet, mit ihren Studenten der Mittelalterlichen Geschichte an der Bergischen Universität nach.
Gemeinsam tüfteln sie daran, die Geheimschriften zu übersetzen. „Geheimschriften sind so spannend, weil gerade in Krisenzeiten brisante Botschaften an Empfänger geschickt wurden, die nicht in die falschen Hände fallen durften“, erklärt Jessika Nowak. Das Chiffrieren sei deshalb eine gute Möglichkeit, den Inhalt der brisanten Botschaft zu verschleiern. „Das ist auf der italienischen Halbinsel im 15. Jahrhundert wichtig gewesen, als es lauter sich bekriegende Parteiungen gab.“
Wer den „Schlüssel“ hat – also weiß, welches Zeichen welchem Buchstaben, Wort oder Namen entspricht – kann die Schriften übersetzen. Doch was so einfach klingt, ist mit viel Zeitaufwand verbunden. „Wir schauen uns die Schlüssel an und erstellen Tabellen, welches Zeichen welchem Buchstaben entsprechen kann“, erklärt Studentin Aleksandra Arsenović.
Besonders interessiert sich das Team für die Korrespondenz des Mailänder Herzogs Francesco Sforza, der im 15. Jahrhundert Informationen brauchte, um seine Herrschaft zu sichern, erklärt Jessika Nowak. „Für jeden Korrespondenzpartner hatte er einen anderen Schlüssel. Das war eine Sicherheitsmaßnahme“, erklärt sie. Student Eneas Uhlemann hat die Schriften untersucht. So sei das Symbol eines Plusses am häufigsten in den von ihm untersuchten Texten eines Mailänder Gesandten vorgekommen. Er folgerte daraus, dass sich dahinter ein Vokal, wahrscheinlich das A oder das E, verstecken könnte – ein Wissenschaftler aus Tel Aviv bestätigte diese Vermutung. „Viele Texte sind in der Volkssprache, in Volgare, verfasst. Wie im Deutschen und Englischen sind dort die Vokale am häufigsten, allen voran das E“, berichtet Nowak.
Sie und ihre Studenten interessiert vor allem eine Frage: Was war so wichtig, dass es verschlüsselt wurde? Denn die Chiffrierer hätten oft viermal so lange an einem Geheimtext gesessen wie an einem Klartext, sagt Nowak. Anhand der Menge an Schriftzeichen können die Historiker Rückschlüsse darauf ziehen, wie wichtig ein Korrespondenzpartner gewesen ist. „Je mehr Zeichen, desto wichtiger war er“, sagt Aleksandra Arsenović. Denn um Menschen, die den Inhalt nicht kennen sollten, das Entziffern möglichst schwierig zu machen, wurden einem Buchstaben mitunter gleich drei Schriftzeichen zugeordnet. So konnten auch Doppelkonsonanten (wie im Wort „immer“) durch verschiedene Symbole dargestellt werden – damit der unrechtmäßige Leser keine Rückschlüsse ziehen konnte. Je weniger Zeichen eine Geheimschrift beinhaltet, desto einfacher wäre das gewesen. Bis zu 260 Zeichen kann so ein Chiffrieralphabet deshalb umfassen, erklärt Jessika Nowak.
Und noch etwas spielt eine große Rolle. „Man wollte den Leser in die Irre führen“, sagt sie. Zumindest den, der nicht den richtigen Schlüssel hatte. So wurden Schriftzeichen ohne Bedeutung zwischengestreut, Schreibfehler, Zahlen, Runen oder ganze Sätze, die durch Zeichen am Satzanfang und -ende für ungültig erklärt wurden. „Der unbefugte Leser sollte das Interesse verlieren, wenn es in einem Text, der in Wirklichkeit im chiffrierten Teil von Friedensverträgen handelte, plötzlich im lesbaren, nicht chiffrierten Teil – der für den Eingeweihten durch die Geheimzeichen wieder aufgehoben wurde – nur um ein Bistum ging“, weiß die Historikerin. Neben lateinischen Buchstaben haben die Wuppertaler in den Schlüsseln auch griechische und kyrillische gefunden, erzählen Panagiota-Irina Sergini und Melis Memedoska.
Bevor die Historiker die Texte entziffern können, müssen sie zunächst untersuchen, in welcher Sprache er verfasst wurde. Als Sensationsfund in der Maria-Stuart-Forschung gelten chiffrierte Briefe der schottischen Königin, die sie in Französisch verfasst hat und die erst im Februar von Wissenschaftlern aus Tel Aviv entschlüsselt wurden. Sie waren so lange unentdeckt geblieben, weil sie in der Pariser Nationalbibliothek in einem Bestand mit italienischen Schriften gelegen hatten, erklärt Nowak.
Um herauszufinden, um welche Sprache es sich handelt, schaut sich das Team zunächst an, wie viele Vokale vorkommen und wie die Wortendungen sind. Viele Vokale am Wortende seien ein Hinweis auf Volgare, mehr als fünf verschiedene Endungen verweisen auf Latein. Dann betrachten sie die kurzen Wörter mit Zweier- und Dreierbuchstaben. Oftmals müssen sie dabei auf Spurensuche gehen. „Manche Zeichen wurden dann im Text abgeändert, ein Strich oder ein Bogen wurde angehängt. Wir müssen dann schauen, ob der Buchstabe noch mal vorkommt oder das eventuell nur ein Tintenfleck ist“, sagt Monique Dreibholz. Was ist gewollt und was nicht, laute hier die Frage.
Über einen Algorithmus nähern
sich Informatiker der Lösung an
Doch nicht immer ist der passende Schlüssel für die Geheimschrift bekannt. Dann kommen an der Bergischen Universität die Informatiker ins Spiel. „Wir gehen davon aus, dass wir eine Menge an Klartextbuchstaben haben und eine Menge an Chiffrierbuchstaben. Wir wissen aber nicht, wie sie zueinander verteilt sind“, erklärt Informatikstudent Adrian Ackermann. Über einen Algorithmus können sich die Informatiker der Lösung des Rätsels annähern. Einen zunächst zufällig erstellten Schlüssel optimieren sie weiter. „Wir können sogar berechnen, wie englisch oder wie italienisch ein Text klingt“, sagt er. Das sei möglich anhand von Sprachmodellen, in denen dargestellt wird, wie häufig ein Buchstabe in einer Sprache vorkommt. Im Englischen komme besonders oft die Kombination „th“ (als Zweierkombi) und „the“ als Dreierkombination vor. Noch nicht erforscht sei, ob die Schlüssel einer Gesetzmäßigkeit unterliegen, sagt Jessika Nowak. „Wir glauben, dass sie nicht willkürlich sind, sondern ein System dahintersteckt.“
Eneas Uhlemann ist aufgefallen, dass in den Phantasiezeichen angehängte Vokale häufig in der Reihenfolge A, E, I, O und U vorkommen, genau wie im klassischen Alphabet. Jessika Nowak und ihre Studenten freuen sich darauf, das „Kuddelmuddel“ der Geheimschriften zu entziffern und bald das Geheimnis einer Systematik hinter den Schlüsseln aufzudecken. Die dicken Wälzer mit den passenden Schlüsseln stapeln sich dafür schon auf den Schreibtischen.