Was glauben Sie denn? Wuppertaler Kirchenkolumne: Mehr jüdische Gegenwart wagen

Wuppertal · Es fehlt an akademischen Strukturen der jüdischen Gegenwartsforschung. Dieses beklagten Wissenschaftler kürzlich in der jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung.

Fototermin: Frau Ruth "Ruti" Yael Tutzinger 37/100 Neues Foto von Frau Tutzinger für unsere Kirchenseite. kiryat-ruti@t-online.de

Foto: Anna Schwartz/ANNA SCHWARTZ

Sie hatten einen Lehrstuhl zu diesem Thema gefordert, der mit der Begründung abgelehnt wurde, es seien genügend Lehrstühle für Judaistik an den Universitäten vorhanden. Die enttäuschten Wissenschaftler argumentierten, dies stimme zwar, aber die Arbeit dort sei überwiegend rückwärts orientiert. Warum ist das so? Als nach der Befreiung 1945 die Gräueltaten in den KZs öffentlich wurden, konnte sich niemand vorstellen, dass es je wieder jüdisches Leben in Deutschland und Mitteleuropa geben würde. Die Überlebenden wollten das Land so schnell wie möglich für immer verlassen. Mit dem Wiederaufbau der Städte begann man nach und nach auch Gedenkstätten für die ehemals jüdische Bevölkerung zu bauen. Größere Städte errichteten Jüdische Museen. Es gab viele Möglichkeiten, vergangenes jüdisches Leben zu erforschen. Es wurden und werden viele Bücher und Broschüren zur Erinnerungskultur geschrieben. Man arbeitet auch in den Schulen intensiv die Vergangenheit auf. Das ist geradezu vorbildlich und dazu ist Deutschland auch verpflichtet, denn die Shoah darf niemals vergessen werden.

Die Auswanderung der Überlebenden ging nur sehr schleppend voran, zumal die Engländer vor der Staatsgründung Israels kaum Menschen in ihr Mandatsgebiet Palästina hineinließen. Manche schafften es illegal. Auf diese Weise blieben einige Überlebende in Deutschland hängen. Einzelne Familien kamen auch aus Israel zurück, weil sie das Klima dort nicht gut vertrugen. So bildeten sich in manchen Städten wieder kleine Jüdische Gemeinden. Die Gemeinde in Wuppertal bestand zunächst aus den Überlebenden des „Judenhauses“.

Das war das ehemalige Elternheim der Jüdischen Gemeinde. Ein späterer Vorsitzender, Heinz Bleicher s.A., hat sich bei der Stadt noch sehr für den Bau der Begegnungsstätte, unser jetziges Jüdisches Museum, auf dem Gelände der ehemaligen Elberfelder Synagoge, eingesetzt. Auch er dachte noch, dass Wuppertal nie mehr eine große Synagoge brauchen würde. Dann brach die UdSSR auseinander, der „Eiserne Vorhang“ fiel und die Welt veränderte sich total.

Die Juden aus allen Teilen der ehemaligen UdSSR hatten die langersehnte Freiheit, auszureisen. Viele zog es nach Israel, andere in die USA, doch auch Deutschland war bereit, ein Kontingent von 110 000 Juden aufzunehmen. Etwa 2400 kamen auch nach Wuppertal, und die kleine Synagoge und auch das Büro konnten den Ansturm kaum bewältigen. Dank der Chuzpe unseres Vorsitzenden, Herrn Goldberg, und mit der Hilfe der Evangelischen Landeskirche konnte 2002 in Barmen die „Bergische Synagoge“ eingeweiht werden. Gleich bei der Einweihung versprach Herr Goldberg, es solle ein offenes Haus werden. In den vergangenen 20 Jahren, die Corona-Jahre muss man ausklammern, haben viele tausend Menschen aller Altersstufen und von Nah und Fern an Führungen durch die Synagoge teilgenommen. Darunter waren viele Schulklassen aller Schulformen. Alle Fragen wurden geduldig beantwortet. Der Chor der Jüdischen Gemeinde feierte weit über Wuppertal hinaus viele Erfolge. Mitglieder der Jüdischen Gemeinde beteiligten sich an vielen öffentlichen Aktivitäten.

Ja, die Gemeinde gewann nach und nach Freunde in der nichtjüdischen Gesellschaft, aber für den größten Teil der Bevölkerung waren und blieben Juden ein Teil der Vergangenheit. Selbst in großen Städten, wie Berlin, wo viele Juden leben, ist das noch so. Kürzlich gab es dort ein langes Lernwochenende, zu dem junge Juden und Jüdinnen aus Deutschland und Europa gekommen waren. Noch vor dem Lernen haben sie die Stadt Berlin erkundet und fingen auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor spontan an zu tanzen. Einige der jungen Leute hatten Instrumente dabei und spielten auf. Sie wollten endlich einmal als junge, fröhliche, lebendige Menschen wahrgenommen werden. Hoffentlich sind wirklich viele Menschen stehen geblieben und haben sich vorurteilsfrei mit ihnen gefreut. Denn viele derjenigen, die ihre Hassparolen gegen Juden in die Gegend brüllen, haben noch nie einen Juden gesehen, geschweige denn Kontakt mit einem gehabt. An den Universitäten sieht das etwas anders aus. Da kennt man den einen oder anderen Juden oder Jüdin. Dass dort allerdings massive verbale, ja sogar körperliche Attacken unter die unantastbare Freiheit des Einzelnen fallen, erschließt sich mir nicht. Die Freiheit des Juden, der Jüdin, bleibt dabei jedenfalls auf der Strecke.

Inzwischen wurden in vielen deutschen Städten wieder sehr schöne Synagogen gebaut. Es werden wieder Rabbiner und Rabbinerinnen, Kantoren und Kantorinnen ausgebildet. Schließlich leben wieder etwa 100 000 Juden und Jüdinnen in Deutschland. Sie sind orthodox, konservativ, liberal oder auch säkular. Nach dem Massaker der Hamas in der Nacht vom 7. Oktober 2023 und der entschlossenen Gegenwehr der Israelis, brach überall eine ungeheure Hasswelle über uns Juden herein.

Viele Juden waren so verschreckt, dass sie lieber unsichtbar blieben. Die oben erwähnten Wissenschaftler halten dagegen und sagen, wir sollten sichtbarer werden. Wir sind aufrechte Menschen, deren Würde so unantastbar ist, wie es im Grundgesetz verankert ist. Es ist höchste Zeit,

sichtbarer zu werden.