Im Gespräch Wuppertaler Kirchenmusikdirektor Christoph Spengler über die Geschichte des gemeinsamen Gesangs
Wuppertal · Chorgesang: Freude am Singen, Freude an der Gemeinschaft
„Gesang ist die eigentliche Muttersprache des Menschen“, sagt der US-amerikanische Dirigent Yehudi Menuhin. Für manche öffnet Singen gar die Seele. Im gemeinsamen Chorgesang kommen Menschen zudem in Kontakt und bilden eine Gemeinschaft. Heute singen in Deutschland insgesamt rund 3,3 Millionen Menschen in mehr als 61 000 Chören. Etwa ein Drittel ist Mitglied im traditionsreichen „Deutschen Chorverband“. Christoph Spengler, Kirchenmusikdirektor und Leiter des Chores und Orchesters der Bergischen Universität Wuppertal, sagt: „Es ist ein großes Glücksgefühl, wenn in einer Chorprobe ein Stück wie ein Mosaik Steinchen für Steinchen zusammengesetzt wird und ein gemeinsames ,Werk‘ entsteht.“
Die Ursprünge des Singens lassen sich aufgrund fehlender schriftlicher Belege nicht genau datieren, sicher ist, dass es schon in der Jungsteinzeit Knochenflöten gab, die die Menschen zum Singen animierten, und der griechische Philosoph Platon um 400 vor Christus glaubte, dass Menschen aus einem Bedürfnis nach sozialer Harmonie heraus singen.
Mehrstimmige Chorgesänge entwickelten sich bereits im 9. Jahrhundert. „Hier wurde zu der Melodie, dem sogenannten ‚cantus firmus‘ eine zweite Stimme gesungen, die parallel dazu in einem festen Intervall lief“, erklärt Spengler. Die Entwicklung des weltlichen Chorgesangs lief seit dem Mittelalter parallel zur Musik in der Kirche. Dazu Spengler: „Einerseits gab es weltliche Lieder und Tanzmelodien, die oft volkstümlich geprägt waren und von Laien bei geselligen Anlässen musiziert wurden. Daneben entstanden höfische Gesänge, die von professionellen Musikern dargeboten wurden. Eine berühmte, weltliche Liedersammlung aus dieser Zeit sind die Carmina Burana aus dem 11. bis 12. Jahrhundert, die die Basis für die gleichnamige, berühmte Komposition Carl Orffs aus dem 20. Jahrhundert waren.“ Die ersten bekannten Chöre waren reine Männerchöre. „Ich denke, dass die Gründe hierfür in der Vergangenheit liegen“, sagt der Musiker, „denn schon auf dem Schlachtfeld wurde gesungen, um die gemeinsame Identität zu stärken, Patriotismus auszudrücken, die Liebe zur Heimat und die Stärkung der soldatischen Gemeinschaft herauszustellen.“ Das gemeinsame Singen habe immer etwas Identitätsstiftendes. Als gesellige Aktivität bringe es Menschen zusammen, stärke das Gemeinschaftsgefühl und fördere den Zusammenhalt. „Gerade nach den napoleonischen Kriegen und der Gründung des Deutschen Kaiserreichs war das Bedürfnis nach einer gemeinsamen Identität groß. Im Laufe der Zeit entwickelte sich daraus eine eigene Kultur. Im 19. Jahrhundert wurden Instrumente und Notenmaterial erschwinglicher, und Männer taten sich zusammen, um ihren Gesang zu verbessern. Der Männergesang wurde zu einer eigenen Kulturform.“ Parallel dazu gab es aber natürlich auch gemischte Chöre zur Aufführung der großen Werke der Zeit, erklärt Spengler und nennt das große Oratorium von Mendelssohn „Elias“ oder Brahms-Requiem. Diese Chöre waren jedoch weniger bekannt, weil sie teils extra für Aufführungen aus geübten Sängerinnen und Sängern zusammengestellt wurden.
Dass die als Volksbewegung entstehenden Chöre vor allem Männerchöre waren, habe wohl mehrere Gründe, erklärt der Kirchenmusikdirektor. „Einerseits hat das natürlich mit der klaren Verteilung der Geschlechterrollen im 19. Jahrhundert zu tun, aber auch mit den Arbeits- und Gemeinschaftsstrukturen. In vielen Berufen waren Männer untereinander stärker organisiert als Frauen. Männer hatten besseren Zugang zu Clubs und Vereinen, in denen sich das Singen zu einer beliebten Aktivität bis hin zu Wettbewerben und Konzerten entwickelte. Letztlich war auch die Obrigkeit an der Förderung des Männergesangs interessiert, stärkte es doch die Moral in der Bevölkerung.“
Die Weltkriege hatten auch Folgen für die Chorlandschaft
Ein wesentlicher Grund für die späte Entwicklung von gemischten Chören liegt für Spengler in der gesellschaftlichen Entwicklung. „Die Rolle der Frau in der Gesellschaft veränderte sich, und in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens wurde die Geschlechtertrennung aufgehoben. Frauen wollten aktiv am kulturellen Leben teilhaben, sie schlossen sich Chören an, die bislang Männern vorbehalten waren.“ Dadurch ergab sich auch eine erhebliche Erweiterung des Repertoires, denn die bedeutenden Komponisten schrieben ja nicht nur für Männer, sondern eben für gemischte Chöre, weil diese eine viel größere klangliche Vielfalt boten, weiß der Fachmann. „Im 20. Jahrhundert begann auch eine starke Professionalisierung der Chormusik, Chorleiter wurden ausgebildet und die Chöre dementsprechend auf ein höheres Niveau geleitet.“
Die Weltkriege hatten große gesellschaftliche Auswirkungen. „Einerseits verloren viele Männer ihr Leben, gleichzeitig sorgte die wirtschaftliche Instabilität dafür, dass Chöre Schwierigkeiten hatten, finanziell zu überleben“, erklärt Spengler, „auch der Musikgeschmack veränderte sich, Jazz und später Rock’n’Roll wurden populär, das Interesse an traditioneller Chormusik nahm ab. Zudem wurde das aktive Musizieren durch das Aufkommen von Rundfunk und dem späteren Fernsehen zurückgedrängt, weil man vermehrt eher konsumierte.“ Spätestens seit den 80er-Jahren setzte bei den traditionellen Männerchören ein bis heute andauerndes Chorsterben ein. Den Grund dafür sieht Spengler vor allem darin, dass man recht starr an der Literatur des 19. Jahrhunderts festhielt und nicht mit der Zeit ging. Dadurch wurden Chöre für jüngere Menschen weniger attraktiv.