Freies Netzwerk Kultur Wuppertaler Kulturkolumne: Von Geschichten zu Geschichte

Wuppertal · Vom ordnenden zum individuellen Blick auf die Welt.

Torsten Krug

Foto: Andreas Fischer

In der Schule habe ich mich nie sonderlich für Geschichte interessiert. Die Bücher für dieses Fach schienen mir öd; oft fiel es mir schwer, längere Abschnitte darin zu lesen, geschweige denn, mich mit ihren Inhalten zu verbinden. Geschichten hingegen haben mich schon immer fasziniert – nicht der ordnende Blick von oben aufs große Ganze, sondern der einzelne, individuelle Blick auf eine Zeit, ein Erlebnis, in unsere Welt, auf uns selbst. Der Wuppertaler Schriftsteller Karl Otto Mühl meinte einmal, dass eigentlich nur die Literatur uns vergangene Zeiten vergegenwärtigen könne. Nur durch sie wissen wir, wie es sich anfühlt, im Ersten Weltkrieg in einem Schützengraben gelegen zu haben, im 19. Jahrhundert Monate auf der Suche nach der verlorenen Zeit in einem Bett zu verbringen oder im 18. Jahrhundert Liebeskummer und Todessehnsucht zu empfinden. Wir können mit Schrecken nacherleben, wie es ist, in einer Diktatur zu überleben, im Irak im Gefängnis zu sitzen – und: die Literatur kann Welten entwerfen, die es noch gar nicht gibt! Literatur, so Biennale-Gast Michael Köhlmeier, ist eine Feier des Konjunktivs – und dabei nicht weniger wahr. Sie und die Kultur im Allgemeinen beeinflussen, wie wir auf vergangene, zukünftige und mögliche Zeiten blicken. Das macht sie für Diktatoren, die genau das kontrollieren möchten, so brandgefährlich.

In meiner letzten Kolumne dachte ich über die Beeinflussung durch digitale Medien nach. Diese scheinen heute weitaus wirkmächtiger als Kunst und Kultur und verbreiten ihre Informationen mit hohem Sendungsbewusstsein. Dabei nutzen sie selbstverständlich künstlerische Mittel. Längst scheinen sie wahlentscheidend zu sein und Entwicklungen auf der ganzen Welt zu beeinflussen, oftmals gezielt gesteuert von politischen Machthabern und deren Interessen.

Auch Geschichte erscheint im Internet in neuem Licht, wird zunächst vielstimmiger, was ein Gewinn sein kann: nichts steht mehr unumstößlich geschrieben. Doch längst scheint dabei ein Wissen um Gewichtung von Informationen, für Zusammenhänge, Bezüge, für so etwas wie eine kollektive Geschichte verloren zu gehen. Geschichte ausschließlich im Spiegel der digitalen Welt wahrzunehmen, hieße, sie aufzufassen wie eine KI: das Ergebnis wäre eloquent, doch im Detail kurios bis absurd, wie aus einer Parallelwelt entnommen.

Seit dem gerade vergangenen Sommersemester darf ich einen Lehrauftrag für Theatergeschichte an der Folkwang Universität der Künste ausüben. Ich begegne dort einer Generation von ungemein begabten Menschen, die komplett im Digitalen Zeitalter aufgewachsen ist. Informationen sind sofort und überall verfügbar, doch wie wird daraus Geschichte? Wie lässt sich Gelesenes einordnen oder überblenden mit gewachsenem Wissen? Das sogenannte „Netz“ gibt oft wenig Auskunft darüber, welche Informationen wichtig, welche unwichtig oder schlicht falsch sind.

Da wir alle um einen großen Tisch herum passen, können wir unsere gemeinsame Arbeit sehr dialogisch gestalten. Natürlich gebe ich immer wieder längeren Input, doch im Wesentlichen stellen wir uns Fragen und versuchen, sie zu beantworten. So kommen wir manchmal von Hölzken auf Stöcksken und bewegen uns doch in unserem thematischen Kreis; zweimal konnten wir schon gemeinsam ins Theater gehen. So entsteht langsam, aber stetig ein anderes „Netz“, an dem wir alle mit Geschichten und eigenen Erfahrungen teilhaben. Am meisten – nicht zuletzt durch die erfüllende Vorbereitung – lerne ich wohl selbst dabei.
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