Gericht/Fahradwurf in Ratingen: Schicksal schlägt in Sekunden zu

Prozess: Eine Frau wirft ein Rad vom Balkon und trifft einen 25-Jährigen: Der Mann liegt im Wachkoma. Die Täterin bekommt Bewährung.

Ratingen/Düsseldorf. Hakki Ö. (25) vegetiert sein eineinhalb Jahren im Wachkoma. Wie aus dem Nichts hatte ihn in einer Sommernacht, am 10. Juli 2005, ein Kinderrad mit voller Wucht aus 21 Metern Höhe am Kopf getroffen. Die Frau, die ihm das angetan hat, verließ gestern das Düsseldorfer Amtsgericht überraschend auf freiem Fuß. Die 35-jährige Irma S. wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Sie hatte das rund zehn Kilo schwere Rad vom Balkon ihrer Wohnung im siebten Stock eines Hochhauses in Ratingen-West geworfen. Das Gericht blieb damit unter dem Plädoyer der Staatsanwältin, die zweieinhalb Jahre Haft wegen vorsätzlicher Körperverletzung gefordert hatte.

Hakki Ö., ein leidenschaftlicher Fußballer, ist seither fast vollständig querschnittsgelähmt. Er wird in einem Seniorenheim gepflegt und wird niemals ein selbstbestimmtes Leben führen können. Auch seine Familie wurde von einer auf die andere Sekunde völlig aus der Bahn geworfen. Der junge Türke hatte so viele Pläne. "Mein Mann und ich träumten immer von Kindern", sagte die Ehefrau. Bruder Hakan musste sein Studium abbrechen und sich einen Job suchen, um die Familie finanziell über die Runden zu bringen.

Zur Urteilsverkündung war die Ehefrau, die in dem Verfahren als Nebenklägerin aufgetreten war, nicht erschienen. "Das Verfahren hat ihr so zugesetzt, dass sie einen Nervenzusammenbruch erlitten hat und derzeit im Krankenhaus liegt", sagte ihr Rechtsanwalt Holger Schütt. Gemeinsam mit der Familie des Opfers soll nun entschieden werden, ob auf Schmerzensgeld geklagt wird.

Versteckt unter ihrer Kapuze war Irma S. gestern in den Gerichtssaal geschlichen. Sie nahm das Urteil regungslos zur Kenntnis. Einen Vorsatz habe das Gericht nicht erkennen können, sagte Amtsrichter Dirk Kruse. "Ihr ging es nur darum, das Fahrrad loszuwerden und nicht darum, jemanden zu verletzen." Denn die 35-Jährige hatte sich am Tattag mit ihrem Lebensgefährten gestritten. Aus Wut und in Rage habe sie sich dann das Rad geschnappt und es über die 1,10 Meter hohe Balkonbrüstung geschleudert.

Irma S. hatte den Wurf zunächst auch gestanden. Das Gericht hatte jedoch erhebliche Zweifel an ihrer Aussage. Es war vermutet worden, dass sie die Tat nur auf sich nimmt, um ihren vorbestraften Lebensgefährten zu schützen. Bei der zweiten Auflage des Verfahrens hatte die Frau geschwiegen, am Ende ihr Geständnis sogar widerrufen. Außerdem sei es einer Frau mit 1,52 Metern Körpergröße gar nicht möglich, ein Kinderfahrrad über die Brüstung zu hieven, glaubte der Richter. Er ließ den Wurf deshalb bei einem Ortstermin mit einer Testperson nachgestellt. Das Ergebnis: Irma S. war dazu körperlich durchaus in der Lage.

Trotz des verheerenden Wurfs eines Fahrrads aus einem Hochhaus in Ratingen hat eine Mutter von drei Kindern das Düsseldorfer Amtsgericht gestern auf freiem Fuß verlassen dürfen. Das Gericht verurteilte die 35-Jährige wegen fahrlässiger Körperverletzung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und blieb unter den Anträgen von Staatsanwaltschaft und Nebenklage. Das aus dem siebten Stock geschleuderte Kinderrad hatte einem vorbeikommenden Passanten den Schädel zertrümmert. Der junge Mann ist seitdem im Wachkoma und fast vollständig gelähmt.

Im letzten Satz der Urteilsbegründung ließ der Richter anklingen, möglicherweise eine Unschuldige verurteilt zu haben: Sie müsse es mit ihrem Gewissen ausmachen, wenn sie mit ihrem Geständnis nur ihren Lebensgefährten geschützt habe. Der Verlobte verfolgte das Ende des Prozesses von der Zuschauerbank aus. Der Mann mit Alkohol- und Drogenproblemen war früh in Verdacht geraten: Er stand wegen Vorstrafen unter Bewährung und war von einem Sohn der Angeklagten beschuldigt worden. Bei ihm wäre das Urteil anders ausgefallen, wenn die unbescholtene und erneut schwangere Sozialhilfe-Empfängerin die Tat nicht auf sich genommen und ein nicht ganz widerspruchfreies Geständnis abgelegt hätte. Wenn es ein Plan war, dann ist er aufgegangen.

Das Leben eines Mannes (und seiner Familie) wird durch einen Fahrradwurf zerstört. Die Täterin verlässt als freie Person den Gerichtssaal. Dieses Urteil ist tatsächlich "schwer zu vermitteln", wie der Richter einräumt. Und so ganz sicher schien er sich auch nicht, ob er die Richtige verurteilt hat. Doch bei Zweifeln hätte es eigentlich einen Freispruch geben müssen. So mag man sich über die Milde wundern, zumal die Düsseldorfer Justiz auch ganz anders kann. Keine Gnade fand etwa jüngst ein Zechpreller, der sich in einigen Restaurants ohne zu zahlen den Bauch vollgeschlagen hat. Für zweieinhalb Jahre muss sich der Gourmet nun mit Gefängniskost begnügen. Da kommt unwillkürlich die Frage, was mehr zählt: ein Menschenschicksal oder die unbezahlte Rechnung für ein Steak?