Joachim Kaiser: „Es ist die große Zeit der Geiger“

Interview: Musikkritiker Joachim Kaiser über den kulturellen Wandel, seine Biografie, Lieblingsaufnahmen und heutige Regiekonzepte.

Joachim Kaiser, einer der berühmtesten Musik- und Theaterkritiker des deutschsprachigen Raums, erhielt jüngst von der deutschen Phonoakademie den Sonderpreis beim "Echo Klassik Preis 2008". Vor wenigen Wochen erschien auch eine Biografie, die er gemeinsam mit seiner Tochter, der Filmregisseurin und Autorin Henriette Kaiser, verfasst hat. Titel: "Ich bin der letzte Mohikaner". Am 18. Dezember wird Kaiser 80 Jahre alt.

Herr Kaiser, Sie erhielten den Echo-Klassik-Preis aufgrund Ihrer Verdienste um die Musikvermittlung, eine Tätigkeit, der Sie seit mehr als einem halben Jahrhundert nachgehen. Welche großen Veränderungen im Kulturleben sind Ihnen dabei besonders aufgefallen?

Joachim Kaiser: Naja, ich habe mich seit 1945 intensiv mit allem beschäftigt, fand damals Edwin Fischer und Wilhelm Furtwängler bedeutend und überaus faszinierend. Dann kam die große Welt dazu, die jüdischen Virtuosen und die großen Russen. Das bewirkte eine ungeheure Veränderung. Die alte Beethoven-Dame Elly Ney beschwerte sich, ich würde nur noch für die Russen schwärmen. Einschneidend wurde auch das Jahr 1955 mit der Entwicklung des Fernsehens und der Langspielplatte, durch die man sich nun ganze Wagner-Opern kaufen konnte. Plötzlich war alles leicht zugänglich, und das hat vieles verändert.

Was ist heute vor allem anders als damals?

Kaiser: Die Faszination durch große Dirigenten hat etwas nachgelassen. Neu ist auch die Entwicklung, dass einige Opern wie der "Tristan" gar nicht mehr zu besetzen sind, weil es heute kaum noch Heldentenöre gibt. Andererseits erleben wir eine Geigen-Renaissance etwa durch Anne-Sophie Mutter mit ihrem wunderbar reinen, apollinischen Ton, oder den fabelhaften Maxim Vengerov. Plötzlich freuen wir uns über eine große Zeit der Geiger. Insgesamt habe ich jedoch das Gefühl, dass Musik heute marginalisiert wird.

Inwiefern?

Kaiser: 1951 schrieb ich in den "Frankfurter Heften" einen langen Aufsatz über Adornos Philosophie der Neuen Musik. Damit habe ich als 23-Jähriger in der intellektuellen Welt Aufsehen erregt. Heute könnte man sich nicht mehr vorstellen, dass eine Zeitung so etwas druckt. Und ich sehe es an mir selbst, dass ich beginne die Geduld zu verlieren, mich mit Dingen zu beschäftigen, deren Erfassung umständlich ist. Das liegt womöglich an der Reizüberflutung.

Ihre jüngst erschienene Biografie trägt in Anlehnung an James Cooper den Titel "Ich bin der letzte Mohikaner". Warum sehen Sie sich als Letzten Ihres Schlages?

Kaiser: Wenn ich mir die Zeitungen ansehe, habe ich den Eindruck, dass das öffentliche Interesse an ästhetischen Fragen zurückgeht. Die Hochkultur erscheint ein bisschen an den Rand gedrückt. Konzerte sind zwar ausverkauft, aber die bewusste Zuwendung weicht zurück.

Zu Ihrem Buch gehören vier CDs mit Ihren Lieblingsaufnahmen, eine davon mit historischen Einspielungen. Man könnte aber auch sagen: drei mit historischen, eine mit prähistorischen...

Kaiser: Nun ja, ich habe meine Lieblingsaufnahmen schon vor längerer Zeit entdeckt, und ich finde, dass sie bis heute nicht überholt wurden. Erreicht man etwa hörend den magischen Moment, da Pablo Casals im Kopfsatz aus Schuberts B-Dur-Trio das Gesangsthema herzbewegend schlicht und unnachahmlich schön vorträgt, dann fragt man sich beklommen, ob es im Bezirk großer Musik überhaupt so etwas wie Fortschritt gibt.

Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt fühlen sich aber sehr fortschrittlich.

Kaiser: Der Harnoncourt hat einmal Beethovens "Missa Solemnis" großartig dirigiert und ich habe daraufhin eine hymnische Rezension geschrieben. Doch dann entdeckte er die ganze Musik neu, dirigierte in Salzburg einen ganz langsamen Figaro und wollte, dass nur noch ohne Vibrato gespielt wird. Und dann klingt es manchmal starr und hässlich.

Sie gelten als Rezensent von Theater- und Opernaufführungen als konservativ. Ärgert Sie das?

Kaiser: Nein. Ärzte sind auch konservativ, die wollen erhalten, heilen. Seit der 68er-Revolution kann man mit den Werken machen, was man will. Da sitzt etwa ein schwuler Don Giovanni im Rollstuhl - und dann wird es etwas langweilig. Überall stößt man auf dieses verfluchte Interessantseinwollen.

Finden Sie die heute üblichen Zeitversetzungen schlecht?

Kaiser: Nicht generell, aber wenn etwa der "Tannhäuser" aus seinem prüden Umfeld herausgelöst wird und im Paris der Jahrhundertwende spielt, wird es unverständlich. Als der Tannhäuser sagt, dass er im Venusberg war, brechen alle zusammen. Aber wenn er das zu Leuten wie Proust sagen würde, hätten diese vielleicht geantwortet: "Das hört sich ja interessant an, geben Sie mir doch mal die Adresse." Vor einigen Jahren war es auch mal in Mode, dass alle Darsteller nackt auf die Bühne kamen.

In Jürgen Goschs "Macbeth" ist das auch jetzt noch der Fall...

Kaiser: Der Gosch ist ja kein Idiot. Aber wenn das Ding als ernsthafte Auseinandersetzung gerühmt wurde, muss ich leider sagen: Man hat doch die Entwicklung des Macbeth gar nicht mitbekommen. Und wenn solche Einwände nicht mehr zählen, ist Kritik letztlich hinfällig geworden. Ich muss mittlerweile feststellen: Diesen Kampf habe ich verloren.

PERSÖNLICHES

Joachim Kaiser wurde am 18. Dezember 1928 in Milken, Ostpreußen, als Sohn eines Arztes geboren. Mit acht Jahren bekommt er den ersten Klavierunterricht. Das gemeinsame Musizieren mit der Familie zählt er heute zu den glücklichsten Momenten seines Lebens. Studium: Musikwissenschaft, Germanistik, Soziologie und Philosophie in Göttingen, Tübingen und Frankfurt am Main, unter anderem bei dem berühmten Soziologen und Musikexperten Theodor W. Adorno. Ab 1953 durfte Kaiser auf Einladung des Schriftstellers Hans Werner Richter an der von ihm gegründeten Gruppe 47 teilnehmen. Journalistische Tätigkeit bei den "Frankfurter Heften" und der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"; 1959 wurde er Feuilleton-Chef der "Süddeutschen Zeitung". Von 1977 bis 1996 Professor an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. Zu Kaisers berühmtesten Publikationen gehören die Bücher "Erlebte Musik" und "Große Pianisten unserer Zeit"