Jürgen Graeser: Der Forscher auf der Eisscholle

Sieben Monate lebte der Wissenschaftler Jürgen Graeser auf einer 15-Quadratkilometer-Scholle in der Arktis.

Potsdam. Plötzlich knackt es bedrohlich neben dem kleinen Holzhaus. Die Eisscholle ist gebrochen, zehn Meter breit klafft die Spalte, darunter nichts als arktischer Ozean. Richtig dramatisch fand Jürgen Graeser diese Situation nicht, genauso wenig wie die umherstreifenden Eisbären oder Temperaturen von minus 40 Grad.

Nach sieben Monaten auf einer drei mal fünf Kilometer großen, durch die Arktis treibenden Eisscholle ist der Potsdamer Wissenschaftstechniker vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) jetzt zurückgekehrt. Gemeinsam mit 20 Russen lebte der 49-Jährige auf der Scholle und unternahm für die Wissenschaft bedeutende Experimente etwa zur Ozonschicht.

"Die Arktis ist eine Schlüsselregion für das Erdklima, aber immer noch ein weißer Fleck auf der Datenlandkarte", sagt Projektleiter Klaus Dethloff. "Nun können wir die Unsicherheiten in den Klimamodellen verringern."

Fast täglich ließ Graeser während der Expedition einen mit Helium gefüllten Fesselballon bis zu 400 Meter hoch steigen, um Temperatur, Feuchtigkeit, Wind und Luftdruck zu messen. Mehrmals in der Woche schickte er zudem eine Ozonsonde mit Hilfe eines Ballons 30 Kilometer in die Höhe. Diese Daten sollen Aufschluss über die vom Menschen verursachten Zerstörungen der Ozonschicht geben.

Erste Auswertungen der Messergebnisse haben nach Dethloffs Angaben bereits erhebliche Abweichungen von einigen Modelldaten gezeigt. So seien am Boden zwei Grad wärmere Temperaturen gemessen worden als bisher in Modellen angenommen.

"Freizeit hatte ich praktisch keine", erzählt Graeser, der gar nicht so blass aussieht, wie man vermuten könnte. Schließlich herrschte während der ersten vier Monate im Bereich der Station schwarze Polarnacht. "Ich habe meine Umgebung ordentlich ausgeleuchtet, dann war es nicht so schlimm." Erst gewöhnen musste sich der 49-Jährige auch an die klirrende Kälte. "Anfangs habe ich mich bei minus 20 Grad kaum hinausgewagt, später konnten mir auch minus 40Grad nichts mehr anhaben." Schnell schlüpfte Graeser dann in den doppelt gefütterten Overall und blieb nur so lange wie unbedingt nötig draußen.

Dort traf er dann auch immer wieder auf Eisbären, die sich sogar bis an sein Holzhaus heranpirschten. "Mit Leuchtmunition konnten wir sie immer vertreiben." Wie seine Expeditionskollegen musste Graeser auch den Zustand der im Bereich der Station gerade einmal 1,40 bis 2,80 Meter dicken Eisscholle kontrollieren. Sie wies gelegentlich bis zu 30 Meter breite Spalten auf. "Aber die froren immer schnell wieder zu, wie auch der Riss in der Nähe meines Hauses."

Die Suche nach einer geeigneten Scholle war laut Graeser das Schwierigste an der Ende September 2007 gestarteten "Drift-Expedition NP-35". "Die Meereis-Bedeckung der Arktis war so gering wie noch nie seit den ersten Aufzeichnungen 1979", erklärte Dethloff. "Warum sich der Expeditionsleiter für diese Scholle entschied, weiß ich bis heute nicht - sie hat jedenfalls gehalten", sagt Graeser schmunzelnd. Seit 1937 haben die Russen Erfahrungen mit diesen Expeditionen.

Nachdem Graeser vor wenigen Tagen mit einem Polarflugzeug von der Eisscholle in das 800 Kilometer entfernte Spitzbergen ausgeflogen worden war, hatte er nur einen Wunsch: "Ein Vollbad."