Schulfreunde: Zwiespältiges Wiedersehen
Klassentreffen sind ein heikles Rendezvous mit der persönlichen Geschichte. Hinter der Frage, wie es anderen ergangen ist, steckt die Suche nach der eigenen Lebensbilanz.
<strong>Düsseldorf. Man muss die Schule früher nicht gehasst haben, um einem Klassentreffen mit gemischten Gefühlen entgegenzusehen. Freude und Angst, gespannte Aufregung und schwer zu deutende Beklemmung sind häufige Reaktionen. Kaum vorstellbar, dass jemandem die Aussicht auf ein Wiedersehen mit der alten Klasse lediglich ein Schulterzucken abringt. Schließlich haben fast alle einst die Schulbank gedrückt - und das in seelisch prägenden Jahren.
Überraschen mag, dass Klassentreffen immer beliebter werden. Die Düsseldorfer Psychotherapeutin Johanna Müller-Ebert findet schon mit Blick auf einschlägige Internet-Foren, dass "geradezu eine Sucht besteht, sich wieder zu finden und zu treffen". Zumindest scheint es ein verbreitetes Bedürfnis zu sein.
Das Ex-Mitschüler-Suchprogramm StayFriends hat derzeit nach eigenen Angaben über 5,6 Millionen registrierte Nutzer. Unter dem Motto "Wiedersehen macht Freu(n)de" bietet die größte deutsche Schulfreunde-Plattform auch die Möglichkeit, Klassentreffen zu organisieren - über 9000 Zusammenkünfte dieser Art sind aktuell geplant.
Das dahinter stehende Unternehmen mit Sitz in Erlangen profitiert nach Ansicht seines Sprechers Daniel Haidn von der gestiegenen, oft beruflich erzwungenen Mobilität der Menschen. Die Bindung an Familie, Schul- und andere Freunde "beginnt sich mit dem Eintritt ins Arbeitsleben aufzulösen". Demgegenüber böten Klassentreffen ein "heimeliges Nest".
Die Sozialwissenschaftlerin Sabine Maschke vom Siegener Zentrum (SiZe) für Kindheits-, Jugend- und Biographieforschung begreift die Zusammenkünfte als Versuche, blinde Flecken in der persönlich erinnerten Biografie zu schließen und das Bild von sich selbst abzurunden. Durch die Erzählungen früherer Klassenkameraden "werden Erinnerungen ergänzt und in manchen Fällen umgedeutet oder umgeschrieben". Alleine könne das niemand.
Überdies sollen Klassentreffen das "Bedürfnis nach einer persönlichen Zwischenbilanz" befriedigen, fügt Johanna Müller-Ebert hinzu. Hinter der Frage, wie es früheren Mitschülern im Leben ergangen ist, stehe meist ein egoistischer Wunsch: "Welchen Erfolg kann ich selber melden?" Insofern hätten Klassentreffen die Funktion eines Spiegels. "Die Teilnehmer wollen sich vergleichen, und sei es, ob die anderen älter oder jünger aussehen oder vielleicht noch dicker als sie selber sind", sagt Müller-Ebert.
Nicht nur unsichere Menschen verspüren wenig Lust, sich dem auszusetzen. Gründe dafür, Klassentreffen zu meiden, gibt es zuhauf. Sabine Maschke zufolge haben zum Beispiel ungute Erinnerungen an die Schulzeit "stärkere Zweifel am Sinn der bevorstehenden Veranstaltung zur Folge". Aber auch noch immer schwelender Ärger oder ungelöste Konflikte mit Ex-Klassenkameraden können dazu führen, dass jemand nicht erscheint.
"Solche Dinge sitzen tief, weil sie aus der Kindheit stammen", sagt der Psychiater und Psychoanalytiker Professor Hartmut Radebold, der das Kasseler Lehrinstitut für Alternspsychologie leitet. Fallen der damalige und der heutige Status nach eigener Einschätzung weit auseinander, kann auch das den Gang zum Treffen erschweren oder verhindern. Der ehemalige Primus, der jetzt arbeitslos ist und Stütze erhält, dürfte kaum zum Klassentreffen erscheinen.
Allerdings machen viele Menschen erfreuliche oder gar beglückende Erfahrungen - so zum Beispiel Ursula Jaeger, Oberärztin an der Universitätsklinik Bonn. Sie hat ihr halbes Dutzend Klassentreffen bisher "rundweg als positiv und recht unkompliziert" empfunden. Die Mittvierzigerin besuchte ein Mädchengymnasium in Hessen und hat daran "weit überwiegend positive Erinnerungen". Das organisierte Wiedersehen alle paar Jahre sei "immer eine schöne Gelegenheit", die alten Klassenkameradinnen zu treffen.