Trampen: Wie ging das noch?
Früher waren ganze Generationen per Anhalter unterwegs. Dann geriet diese Art des Reisens in Verruf und aus der Mode. Und heute? Das Protokoll eines Selbstversuchs.
Düsseldorf. Die Autobahn jault und donnert. Sie pfeift, faucht und knurrt. Menschen hängen Zapfpistolen in Tanköffnungen, Türen ploppen, Umrisse hinter Scheiben zucken vorbei. Aber: Kein Tramper. Nirgends. Man ist der einzige Anhalter an diesem Morgen des 21. Jahrhunderts. Nicht nur hier, auf dem Rasthof Ohligser Heide an der A3, sondern überall - in der ganzen Galaxis sündiger Spritpreise.
Eingesperrt in ihre Büros, warten sie heute auf den nächsten Pauschalurlaub, die Figuren, die in den 70ern mit Mähnen, Rucksäcken und Pappschildern an der Autobahn standen, weil sie getrieben waren von Fernweh, von der Sehnsucht nach Freiheit. Aber einer von ihnen ist ausgebrochen und für zwei Tage zurückgekehrt auf die Straße: ich, Kind der 70er, heute 44 Jahre alt.
Vier Autos brummen vorbei, das fünfte hält. Richtung Frankfurt? Der Fahrer ist halb so alt wie der Anhalter, er räumt Papier, Bananen und eine Tasche vom Beifahrersitz. Dann rollen wir. Zwei Fremde, die sich nicht vorstellen, weil Namen nur das Gleichgewicht aus Anonymität und räumlicher Nähe stören.
Ob er schon mal getrampt ist? Er tippt sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe, seine Mundwinkel sind fleischgewordener Spott. Er sagt: "Stunden am Straßenrand stehen - geht’s noch!?"
Im Radio singt Bonnie Tyler, der Himmel ist blau und das Leben schön. Er hat einen Job im Allgäu, Event-Agentur, Website programmieren. Und er hat gute Laune, weil er das Abi in der Tasche hat und jetzt Sommer ist. Warum der Raum unendlich ist, die Zeit relativ und jede Frau manchmal kompliziert - große Themen finden Platz zwischen St.Augustin und dem Wiesbadener Kreuz.
Hinter Würzburg flimmert der Asphalt, und über der Schwäbischen Alb züngeln Blitze. Die Sonne hat kein Erbarmen und der Lupo keine Klimaanlage. Um 17.30 Uhr erreichen wir gut durchgekocht Bad Wörishofen im Allgäu. Feierabend.
Der nächste Tag, 9 Uhr, schwüle Hitze. Sechs Kilometer zu Fuß von Bad Wörishofen zur Auffahrt sind die Unendlichkeit. Im Niemandsland zwischen Stadt und Autobahn wird der Mensch zum Irrtum der Natur.
Rote Autos fahren vorbei, schwarze, blaue und silberne. Laster, Kleintransporter, Rostlauben und Sportwagen. Autos, Autos, Autos, die alle weiterfahren. Jetzt und bis ans Ende aller Tage. Wolken schieben sich vor die Sonne, es fängt an zu regnen. Um 12 Uhr hält ein klappriger Golf, in dem eine Frau mit etwas ängstlichem Was-mache-ich-hier-eigentlich-Blick sitzt. Endlich, es geht weiter.
Irgendwann tauchen die Schattenrisse der Alpen auf. Ich erzähle von einer Jugendliebe aus Oberstdorf, die heute 42 ist, zwei erwachsene Kinder hat und die man besuchen könnte, wenn die Zeit nicht so knapp wäre.
"Machen Sie das nicht!", sagt die Frau und erzählt von ihrem Ex-Mann, der zum Klassentreffen ging und dort seine erste Liebe wiedersah. Und von ihrem Jüngsten, der acht Jahre alt ist und nicht versteht, warum sein Vater jetzt woanders wohnt. Dabei waren sie glücklich, damals in Bielefeld. Dann machte sich ihr Mann selbstständig, sie zogen nach Bayern und wurden eine sehr wohlhabende Familie. Aber das war vor dem Klassentreffen.
Rasthof Allgäuer Tor. Ein großer Lastwagen mit Tiroler Kennzeichen bremst zischelnd. Es geht vier Stufen in die Höhe, dann erscheint ein gut gelauntes Gesicht. "Grüß Gott", sagt der Fahrer, und schon schwebt man im klimatisierten Großraum über dem Verkehr.
Früher, sagt er, hat er große Touren durch Europa gemacht, und dann erzählt er ein paar Gruselgeschichten von Straßenräubern in Italien. "Heuer bleibt es bei einer Übernachtung im Lkw." Der Fernfahrer spricht rheinisch mit österreichischem Akzent, was daran liegt, dass er aus Viersen stammt und vor 15 Jahren nach Reutte in Tirol zog, die Heimat seiner Frau.
16 Uhr, A8, ein Parkplatz vor Stuttgart: Geschäftsleute peitschen ihre schwarzen Limousinen auf den Beschleunigungsstreifen; in ihren Gesichtern nichts als Verachtung. Sie halten Tramper für Sittenstrolche, Straßenräuber oder Serienkiller.
Aber es gibt auch Hilfsbereitschaft: Ein Monteur mit freundlichen, dunklen Augen dreht die Scheibe herunter und fragt in gebrochenem Deutsch, ob Esslingen okay ist. Nein, weiter, viel weiter, leider. "Schade", sagt er, und zuckt mit den Achseln.
Die Sonne brennt im Nacken, dafür stinken Autos im Zeitalter der Abgasreinigung nicht mehr. Ein Fernfahrer mit geschorenem Kopf und breitem Kreuz schlurft herbei und sagt mit russischem Akzent, dass seine Ruhezeit gleich vorbei ist.
Ein paar Minuten später setzt sich sein weißer Koloss in Bewegung, der Maschinenteile von Mercedes geladen hat. "Marat" steht auf dem Schild an der Scheibe. Marat hört Techno, dann fummelt er am Radio über seinem Kopf herum. Die Sprecherin von SWR3 sagt, dass sich vor dem Kreuz Stuttgart ein Chaos zusammenbraut.
Zehn Minuten später steht der Laster. 17 Kilometer Stau Richtung Karlsruhe, zwölf Kilometer Richtung Ulm. Ein sechsspuriger Strom aus Blech, Plastik und Gummi im gleißenden Licht des Spätnachmittags, der mal stockt, mal rinnt, dann steht.
Der Fernfahrer reckt sich, das ganze Gesicht ein einziger Schmerz. "Meine erste Fahrt seit April", sagt er, "die Bandscheibe ist kaputt." Marat kam vor acht Jahren aus Kasachstan nach Deutschland, sein Junge ist jetzt sieben und spricht gutes Deutsch.
19 Uhr: Der Parkplatz vor Karlsruhe ist überfüllt mit Lastern, deren Fahrer dösen oder plaudern. Der Mensch ohne Auto ist hier nichts als Strandgut am Ufer des großen Asphaltflusses. Es müsste ein Wunder geschehen...
Das Wunder hat tätowierte Arme, abenteuerlustige Augen, einen Mercedes-Sportwagen und sieht aus wie der Seifenoper-Knacki vom ZDF. Er sagt, dass er eigentlich tief in den Westen will heute Nacht, bis zum Atlantik.
Aber er hat noch ein bisschen Zeit, und außerdem: "Hier verschimmelst du noch." Dann rast er über das Karlsruher Kreuz auf die A5 Richtung Frankfurt und Köln, beschleunigt auf 250, bremst, und schon ist man auf dem Parkplatz der Hoffnung.
Im nächsten Auto geht es in den Sonnenuntergang hinein, immer weiter, immer weiter, immer tiefer in die Nacht.