Verschleppt und verurteilt
Der deutsche Arzt Dieter K. muss für 15 Jahre in Haft — möglich wurde das Urteil nur, weil ihn ein Franzose über die Grenze entführen ließ.
Paris. Beim Verlassen des Pariser Justizpalastes verliest André Bamberski seelenruhig seine Erklärung. „Gerechtigkeit ist hergestellt, nun kann ich trauern“, sagt er. Es ist ein Augenblick des Triumphs. Bald 30 Jahre hat der 74-Jährige besessen dafür gekämpft, dass der Kardiologe Dieter K. (76) hinter Gitter kommt. Am Samstagabend wähnt er sich am Ziel. Das Schwurgericht hat den Deutschen soeben zu 15 Jahren Haft verurteilt — wegen Tötung der 14 Jahre alten Stieftochter Kalinka Bamberski im Sommer 1982. Yves Levano, K.s Anwalt kündigt umgehend an, in Berufung gehen zu wollen.
Was geschah in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1982? Für André Bamberski ist die Faktenlage eindeutig. K. habe Kalinka in seinem Haus in Lindau (Bodensee) betäubt, vergewaltigt und dann umgebracht. Auf Mord lautete zunächst die Anklage im Pariser Prozess. Doch nachdem Dutzende Zeugen, Gutachter und Familienangehörige, ausgesagt haben, stufen sowohl der Ankläger als auch das Gericht die Tat auf „vorsätzliche Körperverletzung mit unbeabsichtigter Todesfolge“ herunter.
K. nimmt den Schuldspruch regungslos zur Kenntnis. Diana, seine Tochter, hält minutenlang seine Hände. Sitzt ihr Vater die Strafe vollständig ab, käme er erst 2026 als 91-Jähriger in Freiheit. Ein unwahrscheinliches Szenario, weshalb Staatsanwalt Pierre Kramer treffend von einem „kleinen Lebenslang“ spricht.
Bis zum Jahr 1982 war K. ein erfolgreicher, angesehener und darüber hinaus gut aussehender Mediziner. Erst Jahre später wird sich jedoch herausstellen, dass sich hinter der Fassade des Biedermanns ein anderer verbirgt: nämlich ein skrupelloser, sexbesessener Scharlatan mit einer schockierenden Vorliebe für Teenager und junge Frauen. 1997 verurteilte ein Gericht ihn zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe, weil er in seiner Praxis eine minderjährige Patientin betäubt und vergewaltigt hatte. Schon 1985 gab es einen ähnlichen Prozess.
Für Schlagzeilen sorgt der Falle Kalinka aus einem anderen Grund. Deutsche Behörden ermittelten seinerzeit nicht gegen den Arzt — die Verdachtsmomente reichten nicht für einen Prozess, hieß es. Das Verfahren wurde 1987 eingestellt. Ein Pariser Gericht verurteilt K. 1995 jedoch in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft. Der von Frankreich erlassene Haftbefehl wird nicht vollstreckt, weil Deutschland es ablehnte, einen unschuldigen Staatsbürger auszuliefern.
Im Herbst 2009 nimmt Bamberski das Recht in die eigene Hand und lässt K. ins elsässische Mülhausen entführen. Schwer misshandelt werfen die Entführer den Arzt nahe dem Gericht auf die Straße. Bamberski, der Auftraggeber des Coups, ruft am nächsten Morgen die Polizei, die K. wie ein abholbereites Geschenkpaket vorfindet. Für diese Aktion steht Bamberski bald selbst vor Gericht. Ihm drohen wegen Entführung bis zu 20 Jahren Haft.