Analyse: Ethikstunde kontra Religionsunterricht
In Berlin stimmen die Bürger ab, ob Religion zum regulären Schulfach werden soll.
Berlin. Für die einen ist die in Berlin übliche Ethikstunde für Schüler aller Konfessionen eine vorbildliche Form der schulischen Wertevermittlung. Die anderen beklagen eine zunehmende Verdrängung des klassischen Religionsunterrichts. Einigkeit herrscht darüber, dass die Bedeutung des Berliner Volksentscheides am kommenden Sonntag über die Initiative "Pro Reli" weit über die Hauptstadt hinausreicht.
"Pro Reli" will die bislang auf freiwilliger Basis besuchte und von den Konfessionen selbst erteilte Religionsstunde in Berlin wie in den meisten anderen Bundesländern zum ordentlichen Schulfach machen. Dafür will die Initiative mit einer alten Tradition brechen. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs nämlich ist Religionsunterricht in Berlin ein freiwilliges Zusatzangebot.
Mehr als 610 000 Ja-Stimmen braucht die Initiative, um sich beim Volksentscheid gegen den Berliner Senat durchzusetzen. Die rot-rote Landesregierung hatte vor drei Jahren ab der siebten Klasse einen verpflichtenden Ethikunterricht eingeführt. "Die Vielfalt an Lebensmodellen ist in Berlin groß", sagt Senatsverwaltungssprecher Kenneth Frisse. "Da besteht besonderer Bedarf, über gemeinsame Werte zu diskutieren." Für das derzeitige Modell sind auch der Türkische Bund Berlin-Brandenburg oder die alevitische Gemeinde zu Berlin, die darin sogar ein Rezept gegen den Fundamentalismus sieht.
"Pro-Reli"-Gründer Christoph Lehmann dagegen argumentiert, dass Schüler ihre eigene Weltanschauung kennen lernen sollten, bevor sie über gemeinsame Werte diskutieren. Rückendeckung bekommt der Christdemokrat nicht nur von Prominenten oder den christlichen Kirchen, sondern auch vom Zentralrat der Juden. "Ich kann einer anderen Weltanschauung nur mit Respekt begegnen, wenn ich weiß, wo ich stehe", sagt Generalsekretär Stephan J. Kramer.
Heike Krohn von der Evangelischen Kirche in Berlin beklagt, dass der Religionsunterricht meist in den späten Randstunden stattfindet. Viele Gymnasiasten, durch die Schulzeitverkürzung ohnehin gestresst, meldeten sich ab: "Hier hat man die Wahl zwischen Religion und Eisdiele", sagt sie zur Situation in Berlin.
Die Kirchen unterstützen "Pro Reli" mit einer aufwändigen Kampagne. Für die Initiative werben Promis wie TV-Moderator Günther Jauch. Jüngsten Umfragen zufolge ist die Bevölkerung vor dem Volksentscheid gespalten. Wer sich durchsetzen wird, hängt von der Wahlbeteiligung ab.