Analyse: Hält die Türkei, was sie verspricht?
Mehr Freiheit: Ministerpräsident Erdogan muss seine Verfassungsreform unter Beweis stellen.
Istanbul. Ein knappes Jahr vor der Parlamentswahl haben die türkischen Wähler ihrem islamisch-konservativen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan weitgehend freie Hand gegeben, mit einer Staatsreform zu beginnen. Eine unerwartet große Mehrheit stimmte für Änderungen der Verfassung. Doch nun müssen Erdogans Versprechen - mehr Freiheit und Demokratie - auch den Realitätstest bestehen.
Erdogan wolle eigentlich nur die Justiz unter Kontrolle bringen, weil sie als Trutzburg säkularer Kräfte ein wachsames Auge auf islamistische Bestrebungen der Regierungspartei AKP habe, sagen Kritiker aus der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Der Regierungschef werde sich jetzt aus dem Paket von 26 Änderungen der Verfassung die Punkte herauspicken, die er für den Ausbau seiner Macht im Staatsapparat benötige.
Es sei ein übler politischer Trick, dass Erdogan seinen Griff nach der Justiz in ein Paket mit mehr Bürgerrechten verpackt zur Wahl gestellt habe. Tatsächlich lassen sich in der Türkei viele Beispiele dafür finden, wie geduldig Papier ist, wenn es um die Rechte von Bürgern geht.
Immer wieder machen Berichte über illegale Telefonüberwachungen Schlagzeilen, ohne dass Verantwortliche gefunden und bestraft werden. Im vergangenen Jahr sei die Zahl der Telefonüberwachungen wie bereits im Jahr zuvor um rund 50 Prozent auf nunmehr 142 135 Fälle gestiegen, heißt es in einer staatsanwaltschaftlichen Untersuchung.
Und dann der ungelöste Konflikt um die Rechte der großen kurdischen Minderheit, die die Volksabstimmung in vielen Provinzen weitgehend boykottiert hat. Die Stimmverweigerung erklärt, warum Erdogans Reform in den Kurden-Provinzen besonders viele Ja-Stimmen bekommen hat.
Erdogan sagt, die Verfassungsänderung sei nur ein erster Schritt, der "Veränderungen von historischer Bedeutung" einleiten werde.
In Interviews hat er einen Wechsel der Türkei hin zu einem Präsidialsystem wie in den USA ins Spiel gebracht. Spekulationen, wonach Erdogan dann sich selbst als einzigen starken Mann an der Spitze sieht, sind naheliegend.