Die unterirdischen Mauer-Flüchtlinge
Rund 300 Ost-Berliner schafften durch selbst gebaute Tunnel die Flucht. In vielen Fällen wurde auch vom Westen aus gegraben.
Berlin. Ein Rascheln von Kleidung - das war das Ende. Ganze 160 Meter hatten sich Hasso Herschel und seine Komplizen im Winter 1963 unter der Berliner Mauer hindurch in den Osten der geteilten Stadt gegraben. Doch die Stasi erfuhr von dem Fluchttunnel.
Durch das Loch im Keller eines Hauses im Ostteil der Brunnenstraße hörte Herschel das leise Geräusch des lauernden Aufpassers, der schaute, ob sich etwas bewegt. "Da bin ich wie eine Rakete durch den Tunnel geschossen - schwupp, raus - und habe gesagt: ,Das war’s’."
Hasso Herschels Projekt hatte keinen Erfolg. Doch rund 300 DDR-Bürger schafften grabend die Flucht. Zirka 70Tunnel zwischen Ost- und West-Berlin sind bekannt. Der erste entstand gleich nach dem Mauerbau 1961, der letzte 1985, ist im Buch "Die Fluchttunnel von Berlin" von Dietmar Arnold und Sven Felix Kellerhoff zu lesen. Spektakulär waren der "Rentnertunnel" - der Anführer war 81 - oder der "Tunnel 29", der 29 Menschen zur Flucht verhalf.
Seit dem Frühjahr bietet der Verein Berliner Unterwelten Führungen zu den Mauerdurchbrüchen an. Die Grabungen selbst kann man nicht sehen, dafür sind eindrucksvolle Geschichten hören. Das Interesse 20 Jahre nach dem Fall der Mauer ist groß.
Der Untergrund war Schauplatz des Kalten Krieges: Im Süden der Stadt gruben die Amerikaner in den 50er Jahren einen 400 Meter langen Spionagetunnel in den Osten, um die Leitungen der sowjetischen Militärs abzuhören. Ein sinnloses Unterfangen. Ein Doppelagent verriet die 25 Millionen Dollar teure Röhre.
Die Kanalisation wurde schon vor dem Mauerbau am 13. August 1961 von der Stasi überprüft. Und doch gelang es im Herbst 400 Menschen, durch das faulige Abwasser in die Freiheit zu gelangen. Wichtig war, dass auf DDR-Boden ein "Deckelmann" den Gully wieder auf seine Position schob, damit das Loch nichts verriet. Später sorgte die Kanalgrenzerbrigade dafür, dass niemand mehr ein Schlupfloch fand.
Durch den Mauerbau entstanden Geisterbahnhöfe. Die West-Berliner U-Bahn fuhr von Wedding nach Kreuzberg (heute U8) an Stationen im Osten ohne Halt durch: ein gespenstisches Erlebnis. Fluchten durch die U-Bahn sind kaum dokumentiert. Die Isolierung der Stromschiene wurde abgenommen. Dornige Eisengitter, sogenannte GV-(Grenzverletzer)-Matratzen, sollten Fluchtversuche vereiteln.
An der Bernauer Straße direkt an der Mauer waren besonders viele menschliche Maulwürfe am Werk. Der Grundwasserspiegel liegt tief, das machte das Gelände geeignet für Fluchtversuche. Gebuddelt wurde in Berlin von Ost nach West und umgekehrt. Oft war es ein Problem, die Erde zu verstecken. Nur etwa jede fünfte Tunneloperation war erfolgreich. Die Stasi legte Bodenmikrofone und Erschütterungsmelder aus, um Grabungen zu entdecken.
Die Geschichte der unterirdischen Fluchten dürfte aber noch nicht ganz erforscht sein. Vermutlich gibt es noch immer den einen oder anderen vergessenen Tunnel in Berliner Gärten.