Hintergrund Fakten und Fiktionen im Internetzeitalter: Lügen haben schnelle Beine
Der „Fall Lisa“, in dem Außenminister Steinmeier öffentlich auf russische Propaganda reagieren musste, macht das Ausmaß der gesteuerten Desinformation sichtbar. Sein Sprecher vertraut auf mündige, aufgeklärte Bürger. Doch die wissen längst nicht mehr, was sie eigentlich noch glauben können.
Berlin/New York. Trotz der Einmischung des russischen Außenministers Sergej Lawrow, und obwohl Russlanddeutsche zu Tausenden in Berlin und vor allem in Baden-Württemberg wegen des frei erfundenen Entführungs- und Vergewaltigungsfalls einer 13-Jährigen auf die Straßen gegangen waren, gab sich Außenamts-Sprecher Martin Schäfer vor der Bundespressekonferenz am 27. Januar höchst entspannt. Man sei der festen Überzeugung, dass mündige, aufgeklärte Bürger sich ein eigenes Urteil darüber bilden könnten, „was da in russischen oder anderen Medien an Berichten kommt. Wir haben großes Vertrauen in die Fähigkeit der Bürger, das alles zu verstehen und richtig einzuordnen.“ Und auf Dauer gelte immer: „Lügen haben kurze Beine.“
Da irrt Steinmeiers Sprecher. Massiv von der staatlichen russischen Propaganda- Maschine angetrieben, haben Internet-Lügen in Deutschland derzeit vor allem schnelle Beine und lassen sich kaum noch einfangen. Die „taz“ berichtete jüngst über Recherchen des unabhängigen Moskauer Internetportals „The Insider“, wonach russische Medien in Deutschland erfundene Geschichten mit Statisten darstellen. Im „Fall Lisa“ steht längst der Verdacht im Raum, dass angebliche „Verwandte“ des Mädchens Schauspieler waren, mindestens ein Teil der russlanddeutschen Proteste (mit wortgleichen Plakaten, gleichen Gruppengrößen und sehr ähnlicher Organisation) war wohl gesteuert.
Und die Saat geht auf. Viele Deutsche wissen nicht mehr, was sie noch glauben können. Besonders unter Pegida- und AfD-Anhängern sowie ihrem Umfeld findet die russische Destabilisierungs- Propaganda regelrecht dankbare Abnehmer. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht längst von einer „Entfesselung des Bestätigungsdenkens“.
Das Netzzeitalter erlaube, eigene Bestätigungsmilieus zu gründen, „sich in eine spezielle Wirklichkeit hineinzugoogeln, und dann die Frage zu stellen: Woran liegt das eigentlich, dass das, was ich denke, und das, was scheinbar die vielen anderen denken, dass das gar nicht in der Heimatzeitung meines Vertrauens oder in der großen Qualitätszeitung aus München oder aus Frankfurt vorkommt“, konstatierte Pörksen bereits vor einem Jahr in einem Beitrag des „Deutschlandradio“.
Die naheliegende Antwort, dass derlei Unfug in seriösen Medien schlicht deshalb nicht vorkommt, weil es eben Unfug ist, wird jedoch nicht gehört. Wer sich nur noch mit Selbstbestätigungs-Meldungen beschäftigt, verbreitet diese auch erst recht weiter. So erklärt sich das tausendfache Senden und Teilen sogar offenkundig gefälschter Videos und Fotos im Netz. Auf dem Deutschen Medienkongress Mitte Januar sprach Bascha Mika, Chefredakteurin der „Frankfurter Rundschau“, von einem „Schleier aus Vorurteilen“ sowie populistischen Argumenten und warnte: „Wir kommen eigentlich nicht mehr durch diesen Schleier oder diese Wand durch.“
Während der Außenamts- Sprecher auf Einordnungs-Fähigkeit der Bürger vertraut, sieht es die Chefetage der öffentlich- rechtlichen Nachrichten nicht wirklich als ihre Aufgabe an, als Reparaturbetrieb der Desinformation aufzutreten. Auf dem „Tagesschau“- Blog berichtete Kai Gniffke, Erster Chefredakteur von ARDaktuell, mit der Entwarnung im „Fall Lisa“, der keiner war, habe man sich schwer getan: „Warum bitteschön soll die ‚Tagesschau‘ berichten, dass ein Gerücht nicht stimmt? Dann hätten wir künftig alle Hände voll zu tun.“ Und was ihn betrübe, so Gniffke, sei die Tatsache, „dass wir damit rechnen müssen, dass das Gerücht nicht aus der Welt ist, sondern allein durch das erneute Aufgreifen dieses Themas in der ‚Tagesschau‘ noch tiefer verankert wird, auch wenn klar ist, dass nichts dran ist.“
Zur Wahrheit der fortschreitenden Desinformation gehört allerdings auch, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung nicht nur große Schwierigkeiten hat, Informationen auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu bewerten, sondern sie gar nicht erst versteht. Umfragen von Emnid und des Hamburger Gewis-Instituts kamen bereits 2007 und 2008 zu dem Ergebnis, dass sich zwar die meisten (76 Prozent) sehr wohl für Nachrichten- fit hielten, tatsächlich aber nur rund zwölf Prozent der „Tagesschau“-Zuschauer wirklich jede Meldung verstanden haben — von einer 15-minütigen Sendung mit weniger als 120 Sätzen und 2000 Worten. Auf Nachfrage konnten 89 Prozent damals nicht erklären, was unter dem Begriff „Tarifautonomie“ zu verstehen ist.
Dass sich der Anteil der erwachsenen Deutschen mit Verständnisschwierigkeiten seitdem verringert hat, ist nicht anzunehmen. Die 15-Jährigen der ersten Pisa-Studie — von denen nahezu jeder Vierte gerade mal wie ein Grundschüler rechnen konnte und nur einfachste Texte begriff — werden in diesem Jahr 31 Jahre alt. Waren sich in der Diskussion um die „Bildungskatastrophe“ der 1960er Jahre schnell alle einig, dass zu geringe Bildung eine ernsthafte Gefahr für die bundesdeutsche Demokratie darstellt, spielt die Schlüsselqualifikation „Nachrichten-Kompetenz“ in deutschen Lehrplänen bis heute keine entscheidende Rolle.
Wo Schulklassen nicht an Zeitungs-Projekten der Verlage wie dem „Texthelden“-Programm teilnehmen, sieht der Lehrplan in NRW lediglich „die Förderung von Medienkompetenz“ vor: Wie funktioniert das Internet? Wie wehre ich mich gegen Cybermobbing? Und wie könnte eine Handyordnung in der Schule aussehen? Inzwischen geben 63 Prozent der 16- bis 18-Jährigen an, sich in sozialen Netzwerken über „aktuelle Nachrichten“ zu informieren. Gemeint ist damit zum Beispiel das wirre Durcheinander von Meinung, Mutmaßung und Hörensagen des Youtubers „LeFloid“: Während sein Video zur AfDForderung auf Flüchtlinge zu schießen innerhalb von drei Stunden mehr als 225 000 Abrufe erreichte, sehen die „Tagesschau“ auf Youtube täglich kaum 3500 Nutzer.
Eine aktuelle Studie der OECD kam zu dem Ergebnis, dass in Deutschland als einziges Land in Europa in den sozialen Netzwerken deutlich mehr Nutzer mit formal geringer Bildung (52 Prozent) als Hochqualifizierte (39 Prozent) unterwegs sind. Ihnen fehlt vielfach, was in den USA längst ein eigenes Fach mit landesweiten Projekten ist: „News Literacy“ (deutsch: Nachrichten- Lesefähigkeit). Neben Unterrichtseinheiten für Schulen gibt es seit gut zehn Jahren auch Kurse in „News Literacy“ an der Stony Brook Universität in New York.
Ein Unterrichtsinhalt: Nachrichten von ihrer Interessen- gesteuerten Informations- Nachbarschaft unterscheiden lernen (siehe Grafik). Denn wo immer die Grenzen fließend überschritten wurden — nicht selten zwischen Nachricht und Unterhaltung, aber auch bei der Übernahme von PR-Darstellungen bis hin zu Propaganda — ist Vorsicht geboten. Die Kernkompetenz der Nachrichten- Lesefähigkeit jedoch ist, Nachrichten zu hinterfragen: Werden die Quellen in einer Nachricht genannt? Sind sie glaubwürdig? Sind es überhaupt wirklich Quellen? Ist die Information überprüfbar? Und ist die Nachricht vollständig?
Ein gutes Beispiel für sich entwickelnde Nachrichtenlagen und den Unterschied zwischen Fakten und Fiktionen ist die Falschmeldung vom angeblich toten Flüchtling vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso), die am 27. Januar die Runde machte: Die Sprecherin einer Moabiter Flüchtlingsorganisation berichtete auf Facebook, ein 24-jähriger Syrer habe tagelang vergeblich vor dem Lageso gewartet, sei schließlich zusammengebrochen und auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Während Facebook komplett durchdrehte, blieben die meisten Nachrichten- Redaktionen skeptisch — weil weder die Polizei noch irgendein Berliner Krankenhaus den Fall bestätigte. Der Verbleib des Toten ließ sich nicht klären, kein Krankentransport nachweisen, kein Einsatzgeschehen, nichts. Davon unbeeindruckt erklärte die Berliner Arbeitssenatorin am Mittag, der Tod eines jungen Flüchtlings sei unendlich traurig. Die Umstände müssten jetzt aufgeklärt werden. Da meldeten die ersten Zeitungen auf ihren Internet-Portalen längst, dass es erhebliche Zweifel an der Geschichte gebe. Und am Tag darauf blieb — nach massiver Rechercheleistung der Berliner Lokalzeitungen — nur noch die Geschichte eines überforderten Flüchtlingshelfers und keines Toten übrig.
Das öffentliche US-Radio NPS empfiehlt seinen Hörern, sich bei aktuellen Ereignissen einen Zettel mit neun Zuschauer-Regeln neben den Fernseher oder Computerbildschirm zu kleben:
1.) Unmittelbar nach dem Ereignis werden Medien Fehler machen.
2.) Vertrauen Sie keinen anonymen Quellen.
3.) Vertrauen Sie keinen Storys, die lediglich auf anderen Medien-Storys basieren.
4.) Es gibt fast nie einen zweiten Schützen.
5.) Achten Sie auf die Sprache der Medien: „Wir bekommen Berichte . . .“ kann alles heißen, „Wir warten auf eine Bestätigung für . . .“ bedeutet, dass sie sie nicht haben, und „Nach unseren Informationen . . .“ bedeutet: Sie haben entweder einen Knaller oder liegen komplett daneben.
6.) Suchen Sie nach Medien, die ihren Standort nah am Ereignis haben.
7.) Vergleichen Sie verschiedene Quellen.
8.) Große Nachrichten locken Fälscher an. Und Photoshopper.
9.) Hüten Sie sich vor reflexhaftem Weiterleiten. Einige dieser Regeln meinen auch Sie.
Zuschauer, Hörer und Leser werden in TV-, Radio- und Zeitungs- Nachrichten — auch in dieser Zeitung — nahezu täglich Beispiele finden, die diesen Kriterien nicht genügen. Sie werden aber ebenso feststellen, dass solche Meldungen in der Regel korrigiert und in Folge- Nachrichten berichtigt werden. Korrekturen russischer Propaganda gibt es dagegen nie. Angesichts des Ausmaßes der gesteuerten Desinformation verwundert, dass es in Deutschland keine der amerikanischen „News Literacy“ vergleichbaren Bemühungen gibt, Zuschauer, Hörer und Leser in der Fähigkeit zu stärken, Fakten von Fiktionen unterscheiden zu können.
Die Bundeszentrale für politische Bildung (Ausgaben 2016: 49,8 Millionen Euro, rund 220 Mitarbeiter), die sachlich zuständig wäre, ist in dieser Hinsicht ein Totalausfall. Sie betreibt seit 40 Jahren ein Förderprogramm zur Stärkung des Lokaljournalismus. Für Zuschauer, Hörer und Leser hält sie ein einziges schmales Heftchen zum Thema „Massenmedien“ bereit. Darin steht, wie Medien gemacht werden — aber nicht, wie man sie überprüft. Dass die Deutschen das einfach so können, wird schlicht geglaubt.