Grünen-Chef Özdemir: "Kuschelkurs gegenüber Ankara beenden"

Großdemo in Oberhausen, Repressalien gegen Kritiker in der Türkei - und in Oberhausen jubeln Deutschtürken für Erdogans Verfassungsrefom. Grünen-Chef Özdemir sieht wachsende Gefahr einer „Erdogan-Parallelgesellschaft“.

Der Grünen-Chef Cem Özdemir fordert ein Ende des „Kuschelkurses“ gegenüber Ankara.

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Oberhausen/Berlin. Während der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim auf einer Großveranstaltung am Wochenende in Oberhausen ungestört für den Machtausbau von Staatspräsident Erdogan werben konnte, bekommen Kritiker in der Türkei weiter Repressalien zu spüren. Zuletzt wurde dort ein deutsch-türkischer Journalist in Polizeigewahrsam genommen. Der Grünen-Chef Cem Özdemir fordert ein Ende des „Kuschelkurses“ gegenüber Ankara. Mit ihm sprach unser Korrespondent Stefan Vetter:

F: Herr Özdemir, schon vor gut einem halben Jahr gab es in Köln eine Großdemo von Erdogan-Fans. Was hat die türkische Innenpolitik auf den Straßen in Deutschland zu suchen?

A:
Natürlich darf man sich in Deutschland für die Türkei interessieren, zumal, wenn man Vorfahren in diesem Land hat. Aber es ist schon nachgerade absurd, wenn der türkische Ministerpräsident in Oberhausen Werbung für die Errichtung einer Diktatur daheim machen darf und das Recht für Oppositionelle, dies zu kritisieren, mit Füßen getreten wird.

F: Was ist eigentlich so faszinierend an Erdogan, dass sich auch fern der Türkei so viele Menschen für ihn begeistern?

A:
Ein beachtlicher Teil seiner Anhänger sehnt sich nach religiöser und nationaler Wiedererweckung. Die Begeisterung für Erdogan resultiert aber auch aus dem Versagen früherer Regierungen, weil sie es nicht geschafft haben, den sozial Benachteiligten insbesondere in den ländlichen Regionen der Türkei, eine Perspektive zu bieten. Stichwörter sind Arbeitsplätze, marodes Gesundheitssystem, schlechte Infrastruktur, Korruption. Das hat sich unter dem frühen Erdogan zum Teil deutlich gewandelt. Anfangs hat er die Türkei auch politisch geöffnet. Daraus keimte die Hoffnung, Erdogans AKP könnte so etwas wie eine Art islamische CDU werden. Doch diese Hoffnung war ein großer Trugschluss.

F: Offenkundig wollen das viele Türken aber nicht wahrhaben.

A:
Ja, da spielen auch Minderwertigkeitsgefühle eine Rolle, die durch den Größen- und Verfolgungswahn Erdogans kompensiert werden. Das ist eine Mischung, die auch gefährlich für das Zusammenleben in Deutschland ist. Denn Erdogan geht es auch darum, seinen absoluten Machtanspruch bis in die Wohnzimmer und Moscheen der hier lebenden Türken zu tragen.

F: Was lässt sich dagegen tun?

A:
Indem man zum Beispiel mit dem Spitzelnetzwerk Erdogans in Deutschland gründlich aufräumt. Für die Grünen kann ich klar sagen, wer bei uns Mitglied ist, kann nicht gleichzeitig in einem anderen Land Folter und Unterdrückung gutheißen. Erdogan oder auch Putin kritiklos zu unterstützen und Grünen-Mitglied — das passt nicht zusammen. Nach allem, was ich weiß, tun sich die CDU und SPD sehr schwer damit, hier klare Kante zu zeigen. Auch die Union und SPD müssen Mitglieder, die in Oberhausen für Unterdrückung und Diktatur jubeln, fragen, wie sich dies mit Demokratie und Grundgesetz vereinbaren lässt.

F. Immerhin hat sich die Türkische Gemeinde in Deutschland deutlich von den Macht-Plänen Erdogans distanziert.

A:
Das ist sehr zu begrüßen. Aber die Türkische Gemeinde spricht leider längst nicht für alle hier lebenden Türken und steht genauso, wie alle Erdogan-Kritiker unter Druck

F: Was erwarten Sie jetzt von der Bundesregierung?

A:
Die Kanzlerin, aber auch alle demokratischen Parteien müssen deutlich machen, dass Ankara gleich mehre rote Linien überschreitet. Dazu gehört auch die klare Forderung nach einer sofortigen Freilassung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel. Wir dürfen eine Erdogan-Parallelgesellschaft mit Angst und Denunziation nicht achselzuckend hinnehmen. Die Zeit des Kuschelns mit einer türkischen Regierung, die sich so verhält, muss endgültig vorbei sein.