Arznei-Bewertung startet - Patienten-Risiko bleibt
Berlin (dpa) - Den Patienten in Deutschland drohen nach der Pharma-Reform trotz neuer Schnellprüfungen von teuren Arzneimitteln gefährliche Risiken.
Hochrangige Experten warnen davor, dass Patienten möglicherweise jahrelang Medikamente verschrieben bekommen, die Gefahren bergen oder schlechter wirken als andere. „Der Patient wird suboptimal versorgt“, sagte der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Wolf-Dieter Ludwig, in Berlin.
Mit dem Blutverdünner Brilique der Firma AstraZeneca durchläuft das erste Mittel einen zum Jahresbeginn eingeführten Bewertungsprozess. Das Präparat soll Menschen bei akuter Herzinfarktgefahr helfen. Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) hatte angekündigt, mit der Reform das Preismonopol der Pharmaindustrie brechen zu wollen.
Auf Basis von Herstellerangaben prüft der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten, Krankenkassen und Kliniken den Mehrwert neuer Medikamente im Vergleich zu bisherigen Mitteln. Der Chef des Spitzengremiums, Rainer Hess, sagte der Nachrichtenagentur dpa, die Kassenausgaben könnten zwar sinken. Doch selbst ohne Beleg eines Zusatznutzens bleibe das Mittel auf dem Markt.
Kommissionschef Ludwig sagte der dpa: „Das bedeutet, dass der Patient auch über Jahre nach der Zulassung mit Arzneimitteln behandelt wird, die nicht ausreichend auf ihre Überlegenheit gegenüber anderen Mitteln und ihre Sicherheit untersucht sind.“
Das Bundesgesundheitsministerium wies die Befürchtungen zurück. Erst wenn am Ende umfangreicher Prüfungen feststehe, dass der Nutzen eines neuen Arzneimittels die möglichen Risiken deutlich übersteige, würden die Kontrollbehörden die Zulassung erteilen, sagte ein Sprecher am Sonntag. „Daran hat sich nichts geändert.“
Am Donnerstag will der Bundesausschuss in ungewöhnlicher Sitzung zentrale Schritte des neuen Verfahrens beschließen. Wegen großen Zeitdrucks ist geplant, dass anders als üblich ein Vertreter des Rösler-Ministeriums den Beschluss noch in der Sitzung billigt. Rund zwei Milliarden Euro sollen durch die Bewertungen pro Jahr gespart werden.
Einen Tag vorher will die Arzneikommission der Ärzte ein Konzept gegen bleibende Schwachstellen vorstellen. Die Kassen gaben 2009 die Rekordsumme von 30 Milliarden Euro für Arzneimittel aus. Allein in den ersten drei Quartalen 2010 kletterten die Ausgaben erneut um rund 1 Milliarde, teilte eine Sprecherin des Kassen-Spitzenverbands mit.
Erkennt der Ausschuss einen Zusatznutzen an, verhandelt der Kassenverband mit dem Hersteller über Abschläge vom Preis - je nach Umfang des Mehrwerts. Das Problem sind aus Sicht der Experten teils sehr lückenhafte Informationen zu den Mitteln.
Denn die unabhängigen Experten bewerten ausschließlich die Daten für die Arzneizulassung. Dabei würden wegen der begrenzten Zahl der Studien-Teilnehmer und der Kürze der Prüfungen bestimmte Bevölkerungs- und Altersgruppen nicht berücksichtigt, berichtete das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Ludwig warnte: „Auch lebensbedrohliche Nebenwirkungen werden nicht selten erst Jahre nach Zulassung entdeckt.“
Doch auch wenn Jahre später mehr Klarheit über die Medikamente herrschen könnte, drohten die Präparate im Markt zu bleiben. Hess sagte: „Möglicherweise verschlechtert sich die Studienlage hier sogar, weil die Hersteller nun sagen können: Es gab doch schon eine frühe Nutzenbewertung, wofür sollen wir weitere Studien finanzieren und durchführen?“ Zwar kann der Bundesausschuss dann wie bisher den tatsächlichen Nutzen bewerten und zudem weitere Studien verlangen. Es fehle aber eine Pflicht für die Firmen, inzwischen von sich aus die Zweckmäßigkeit der Präparate zu beweisen, kritisierte Hess.
Ludwig forderte umfassendere Reformen etwa für sehr teure Krebsmittel. „Wir bräuchten eine richtige Nutzenbewertung nach zwei, drei Jahren aufgrund unabhängiger Studien und den dann vorliegenden Erfahrungen.“