Gauck im „Dorf der Märtyrer“

Von Deutschland vernichtet, von Frankreich verraten: Nirgendwo lastet die Geschichte beider Länder schwerer als in Oradour-sur-Glane.

Paris. Nur wenige Franzosen haben schon von Joachim Gauck gehört. Über den Bundespräsidenten berichten französische Medien so gut wie nie. Doch das wird sich schlagartig ändern, wenn Joachim Gauck am Mittwoch gemeinsam mit François Hollande durch die Ruinen des 200 Kilometer nordöstlich von Bordeaux gelegenen Dorfs Oradour-sur-Glane schreitet.

Oradour, das „Dorf der Märtyrer“, ist eine alte Wunde, die nicht vernarben will. Am 10. Juni 1944 wurde der kleine Ort in der Region Limousin zum Schauplatz des brutalsten Kriegsverbrechens, welches deutsche Soldaten je auf französischem Boden verübten. Panzergrenadiere der SS-Division „Das Reich“ metzelten hier wenige Tage nach der alliierten Landung in der Normandie 642 Menschen nieder, unter ihnen 207 Kinder und 254 Frauen.

Nur sechs Einwohner überlebten das grausame Massaker in dem durch Feuer und Sprengsätze völlig zerstörten Dorf, das General Charles de Gaulle bereits zwei Jahre später zur historischen Gedenkstätte erklären ließ. Noch nie hat ein hoher Repräsentant der Bundesrepublik diese Gedenkstätte besucht.

Zu erbittert waren die Angehörigen der Opfer über den mangelnden Willen der deutschen und der französischen Justiz, die Verantwortlichen des Massakers zur Rechenschaft zu ziehen. Die Gräuel von Oradour haben zwar 1953 zu einem Prozess in Bordeaux geführt. Aber auf der Anklagebank saßen nur 65 Täter, die übrigen waren entweder in der Normandie gefallen oder konnten nicht ermittelt werden. Zunächst wurden in Frankreich zwei Täter — darunter ein Elsässer — zum Tode verurteilt, andere sollten bis zu zwölf Jahre in Haft. Aufgrund von Unruhen im Elsass wurden die Urteile aber später aufgehoben oder zu milderen Strafen umgewandelt.

Als einen historischen Moment für seine Gemeinde wertet Bürgermeister Raymond Frugier das Kommen von Joachim Gauck. Er ist sich sicher, dass dieser Besuch als Geste „genauso bedeutend sein wird wie der Händedruck von Mitterrand und Kohl in Verdun“.

„Die Verstorbenen hätten gesagt, dass der Kampf enden muss. Schließlich können wir den Hass nicht noch Tausende von Jahren pflegen“, meint auch Robert Hébras. Der 88-Jährige ist einer der sechs Überlebenden des Massenmords in Oradour und wird die beiden Präsidenten persönlich durch die Überreste seines Geburtsorts begleiten. Gauck und Hollande werden spätestens dann die Worte fehlen, wenn sie vor den Überresten der ehemaligen Dorfkirche stehen. In der Kirche verbrannten Hébras’ Mutter Marie und seine beiden Schwestern Denise (9) und Georgette (22).