Gauck: Innere Einheit Deutschlands braucht 40 Jahre
Ratzeburg (dpa) - Mit einem Gottesdienst im Ratzeburger Dom ist am Pfingstsonntag die evangelische Nordkirche feierlich gegründet worden.
Bundespräsident Joachim Gauck würdigte die Fusion der nordelbischen (Hamburg/Schleswig-Holstein), der mecklenburgischen und der pommerschen Kirche als neues Kapitel des vertrauensvollen Miteinanders von Ost- und Westdeutschen, warnte gleichzeitig aber vor Illusionen über den Zustand der inneren Einheit. „Mentalitätswandel braucht länger“, sagte Gauck in seinem Grußwort nach dem feierlichen Gründungs-Gottesdienst im Ratzeburger Dom.
Zwei Generationen, rund 40 Jahre, seien notwendig, „um von dem Status der Abhängigkeit und der Unterdrückung in den Status eines freien Menschen zu gelangen“. „Wir wollen uns freuen, dass es zu dieser Vereinigung gekommen ist“, sagte Gauck, der von seinem vorab verbreiteten Redemanuskript mehrfach abwich. Es könnte sein, dass einige zu viel erwarten von der neuen organisatorischen Einheit. „Es hat eine lange Phase gegeben, die uns unterschiedlich gemacht hat.“ Die müsse nicht trennend wirken, aber man müsse sich dessen bewusst sein.
Gauck verwies auf Repressalien gegen die Kirchen in der DDR, eine Erfahrung, die es im Westen nicht gegeben habe. Die Kirchen in Ost und West müssten Buße tun für sehr unterschiedliche Sachen, sagte Gauck, der früher in Rostock Pastor war. Zugleich betonte das Staatsoberhaupt, das sich in vielen Passagen ausdrücklich als Christenmensch und nicht als Bundespräsident äußerte, sein Gottvertrauen. Christen müssten Verantwortung übernehmen, um ein Segen in dieser Welt zu sein - „darum wollen wir beten und dafür wollen wir handeln“.
Als „Jahrhundertwerk“ und „Herkulesaufgabe“ bezeichnete der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der rheinische Präses Nikolaus Schneider, die gelungene Fusion. Er verwies auf die verschiedenen Traditionen, Mentalitäten und die so unterschiedlichen Geschichtserfahrungen. Die neue Landeskirche reicht von Flensburg bis zur polnischen Grenze. Erstmals seit der deutschen Einheit haben sich Landeskirchen aus Ost- und Westdeutschland vereint.
Der mecklenburgische Bischof Andreas von Maltzahn erinnerte in seiner Predigt an die friedliche Revolution in der DDR 1989 als Verpflichtung für die Zukunft. Die Kirche müsse die Demokratie stärken und zugleich auf Gerechtigkeitslücken in der Gesellschaft hinweisen. „Wir haben damals entdeckt: "Wir sind das Volk" (...) Wir haben das bleierne Kleid der Unfreiheit abgestreift. (...) Seitdem wissen wir: Die Verhältnisse müssen nicht bleiben, wie sie sind.“ Die Kirche müsse Platzhalter solcher Hoffnung sein.
„Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland“, lautet der offizielle Name der Nordkirche. Mit fast 2,3 Millionen Christen ist sie die fünftstärkste der verbliebenen 20 Landeskirchen in Deutschland mit 24 Millionen evangelischen Christen. Der Einigungsprozess dauerte fünf Jahre.
Der Ratzeburger Dom war mit 700 Gästen bis auf den letzten Platz gefüllt; rund 3500 Menschen verfolgten die Feier und die anschließenden Grußworte auf einer Videoleinwand vor dem Rathausplatz - bei strahlendem Sonnenschein. Mittags fand die „Ratzeburger Mahlzeit“ in einer parkähnliche Anlage statt, dem Palmgarten vor dem Dom.
An 600 weiß gedeckten Tischen mit 5000 Plätzen gab es Brötchen, Wurst, Käse und Erdbeeren. An jedem Tisch saß je ein Mitglied aus einer der 1045 Gemeinden der drei früheren Landeskirchen - so sollte das Kennenlernen der Kirchenmitglieder symbolträchtig beginnen. Nach Angaben der Veranstalter kamen bis zum Nachmittag fast 15 000 Besucher in die Stadt.
Schleswig-Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) sprach im Namen der Regierungen von Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Schleswig-Holstein seine Anerkennung aus. Die Nordkirche sei ein zukunftsweisender und bahnbrechender Schritt. Eigene Interessen und Traditionen seien zurückgestellt worden, um den Mitgliedern der Kirchen eine neue geistliche Heimat zu geben: „Wenn sich die Menschen heute so geborgen in ihrer Kirche fühlen wie gestern, dann haben Sie alles richtig gemacht.“