Inge Deutschkron: „Das Gefühl von Schuld verfolgt mich“

Die 90-jährige Inge Deutschkron erinnert sich im Bundestag an ihren Kampf um das Überleben während der NS-Diktatur.

Berlin. Es ist 12.30 Uhr, als sich die zierliche Frau mit den kurzen Haaren erhebt. Bundespräsident Joachim Gauck führt Inge Deutschkron zu ihrem Sessel vor dem Podium der Parlamentsspitze. Die 90-Jährige redet im Plenarsaal im Sitzen. Mit fester Stimme beginnt sie ihren Vortrag über ihr „zerrissenes Leben“, wie sie sagt. Die Rede wird zu einer ganz persönlichen Geschichte.

Vor genau 80 Jahren war Adolf Hitler etwa zu gleichen Zeit nur einige hundert Meter entfernt in der Alten Reichskanzlei zum Reichskanzler ernannt worden. „Damit begann das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte“, sagt Bundestagspräsident Norbert Lammert zum Auftakt des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.

Auch Inge Deutschkron beginnt mit diesem Ereignis. Als Zehnjährige hat sie die bejubelte Machtübernahme der Nazis in Berlin erlebt. „Dicht an dicht, so standen sie am Straßenrand, in jener Nacht, Männer und Frauen, Junge und Alte“, erinnert sie sich.

Sie berichtet, wie die „neuen Herren“ in Uniformen noch am Abend des Tages triumphierend mit brennenden Fackeln durch das Brandenburger Tor marschierten und von Gesängen, die erklangen: „Wenns Judenblut spritzt, dann geht’s noch mal so gut.“

Gebannt lauschen die Abgeordneten, als die deutsch-israelische Autorin weiterredet. Sie erzählt, wie sich das Leben in Berlin nach Hitlers Machtantritt änderte. „Du gehörst jetzt zu einer Minderheit“, sagte ihre Mutter damals. Sie selbst habe den Satz überhaupt nicht verstanden, weil die jüdische Herkunft der Familie bis dahin keine Rolle spielte.

Von weiteren einschneidenden Erlebnissen erzählt sie. Etwa als ihr Vater, ein Sozialdemokrat, den Brief von seiner Entlassung als Lehrer bekam: „Nie zuvor und nie wieder habe ich meinen Vater so empört gesehen.“

Und sie berichtet von ihren Ängsten. „Oft konnte ich nicht einschlafen und horchte auf die Tritte im Treppenhaus.“ Oder von den Erfahrungen mit dem „gelben Lappen“, dem Stern, den Juden bald tragen mussten. Besonders eindringlich sind die Passagen über die Deportation der letzten Berliner Juden in die Vernichtungslager, der sie und ihre Mutter in Verstecken entkamen. „Dann waren sie alle weg, meine Familie, meine Freunde“, sagt sie. „Ich begann mich schuldig zu fühlen. Dieses Gefühl von Schuld verfolgt mich bis heute.“

An einigen Stellen schwingt auch tiefe Bitterkeit mit. Etwa als Inge Deutschkron erzählt, wie sie nach dem Krieg daran gegangen sei, die Wahrheit zu Papier zu bringen. Viele Deutsche hätten abgewinkt: „Vergessen Sie das doch. Es ist doch schon so lange her.“

Nur wenige richtig glückliche Tage habe sie in ihrem Leben gehabt, hat Inge Deutschkron kürzlich gesagt. Dieser Auftritt, als ihr so viele zuhörten, könnte ein solcher Moment gewesen sein.