Urteil in Demjanjuk-Prozess in greifbarer Nähe

München (dpa) - Die Fronten treffen aufeinander wie am ersten Prozesstag vor fast eineinhalb Jahren. Die Staatsanwaltschaft sieht die Schuld des mutmaßlichen KZ-Wachmanns John Demjanjuk als bewiesen an: Er habe 1943 bei der Ermordung von mindestens 27 900 Juden im Vernichtungslager Sobibor geholfen.

Für die Verteidigung ist dagegen auch nach 90 Verhandlungstagen nicht einmal klar, ob Demjanjuk überhaupt in Sobibor war.

Das Gericht plant die Urteilsverkündung für Donnerstag (12. Mai). Der Termin sei aber noch nicht fest bestimmt, heißt es vorsichtig in der Mitteilung der Justiz. Allzu oft haben sich Termine verzögert, weil die Verteidigung neue Anträge stellte oder weil der 91-jährige Angeklagte gesundheitliche Probleme hatte.

Rund 30 Holocaust-Überlebende und Angehörige von Opfern sind Nebenkläger in dem Prozess, der einer der letzten zur Aufarbeitung der NS-Geschichte sein könnte. Seit Prozessbeginn am 30. November 2009 hat sich das Gericht unter Vorsitz von Ralph Alt durch Berge von Akten gearbeitet, stundenlang Historiker, Sachverständige und hochbetagte Zeugen gehört. Er wisse nicht einmal mehr, wie sein Vater und seine Mutter ausgesehen hätten, sagt ein Sobibor-Überlebender. Klar, dass er nach fast 70 Jahren das Gesicht eines Wachmannes erst recht nicht wiedererkennen könne.

In einem zähen Indizienprozess versuchten die Richter, die Schuld des gebürtigen Ukrainers zu klären. Beobachter erwarten mit Spannung, wie die Kammer urteilen wird. Zumindest hat sie bis zuletzt den Haftbefehl nicht außer Vollzug gesetzt - und geht damit offenbar weiter von dringendem Tatverdacht aus.

Zwar gibt es niemanden, der auch nur eine einzige konkrete Tat Demjanjuks bezeugen kann. Doch die Anklage argumentiert: Da Sobibor allein zur planmäßigen Ermordung von Menschen diente, hat sich jeder mitschuldig gemacht, der dort Dienst tat. „Seine Schuld besteht in seiner freiwilligen Mitwirkung an der Ermordung der Juden“, sagte Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz in seinem Plädoyer. Er verlangt sechs Jahre Haft. „Wer Schuld in derart hohem Maß auf sich geladen hat, muss bestraft werden, auch noch nach mehr als 60 Jahren und in so hohem Alter.“

Frühere Aussagen eines Wachmanns aus Sobibor, Verlegungslisten und ein Dienstausweis mit der Nummer 1393 sind für die Anklage die Hauptbeweise, dass Demjanjuk in dem Vernichtungslager war. Gutachter kamen in dem Prozess zu dem Schluss, der Ausweis sei echt. Die Verteidigung hingegen bezeichnet ihn weiter als KGB-Fälschung.

Demjanjuk sei nie in Sobibor gewesen, sagte Anwalt Ulrich Busch in seinem 20 Kapitel umfassenden Plädoyer. Selbst wenn Demjanjuk aber dort gewesen sei, gebe es keinen Beweis, dass er in den Vernichtungsprozess eingebunden war. Demjanjuk habe selbst stets bestritten, je ein sogenannter Trawniki-Mann - Helfer der Nazis - gewesen zu sein. Und die Grundlage für die Verbrechen habe ja Deutschland geschaffen. „Der wahre Täter heißt Deutschland - das Schreckliche.“ Es gehe gar nicht um Demjanjuk, sondern darum, die ausländischen Helfer am Holocaust in Mithaftung zu nehmen - und so Deutschlands Schuld zu verringern. Busch fordert Freispruch. Sonst wollen er und sein Anwaltskollege Günther Maull in Revision gehen.

Demjanjuk selbst hat seit seiner Abschiebung aus den USA im Mai 2009 nur einmal öffentlich etwas gesagt. „Ich bin nicht Hitler!“, rief er aus dem Rollstuhl auf dem Weg zum Gerichtssaal in eine laufende Kamera. Im Prozess hat aber Busch zweimal Erklärungen seines Mandanten verlesen, die im Tenor ähnlich klingen wie sein eigenes Plädoyer: Die Verhandlung sei ein politisch motivierter Schauprozess. Er, ein „ukrainischer Bauer“, stehe anstelle schuldiger Deutscher vor Gericht.

Die Nebenkläger sehen in dem Verfahren eine der letzten Chancen, die Rolle der Wachmänner in der Tötungsmaschinerie der Nazis zu klären. Zu den Schlussvorträgen waren mehr als ein Dutzend von ihnen aus den Niederlanden und den USA angereist. Manche mit Tränen in den Augen, andere wütend forderten sie eindringlich eine Verurteilung. Es gehe um Gerechtigkeit und Wahrheit, nicht um Rache.

„John Demjanjuk, wir hatten erwartet, dass Sie sich bei den Ermordeten und ihren Angehörigen hier im Gerichtssaal entschuldigen würden“, rief ein 74-jähriger Nebenkläger dem Angeklagten zu, der wie stets ohne Regung, die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen, auf seinem Bett vor der Richterbank lag. In der nächsten Woche wollen einige Nebenkläger wieder anreisen. Manche hoffen noch immer, dass der Angeklagte wenigstens in seinem Schlusswort sein Schweigen bricht.