Vom Wert der Christen in einer Wutgesellschaft

Die Kirchen scheinen in der Defensive. Aber der Glaubensdreiklang aus Widerspruch, Zuwendung und Gemeinschaft kann Orientierung sein für ein Land, das um seinen sozialen Frieden ringt.

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Düsseldorf. Sie ist in der Defensive, auf dem Rückzug. Ihr gesellschaftlicher Wert steht auf dem Prüfstand. Viele kehren ihr den Rücken, teils aus Enttäuschung, teils aus Desinteresse. Sie hat ein Generationenproblem: Die Alten halten ihr noch die Treue, die Jungen wissen mit ihr oft nichts mehr anzufangen. Manchen gilt sie nur noch als überholter Teil eines fragwürdigen Establishments. Sie muss sich neu Gehör verschaffen, sie muss sich neu erfinden, sie muss sich re-formieren.

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Wovon ich rede? Von der Zeitung natürlich. Ich bin Zeitungsjournalist. Aber ich könnte mit den gleichen Worten auch von der evangelischen Kirche reden. Denn ich bin auch Prädikant. So nennt die Evangelische Kirche im Rheinland ihre ehrenamtlichen Prediger.

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Mein berufliches Herz hängt an der Zeitung, mein privates an der Kirche — so richtig sexy ist das beides im Augenblick nicht. Aber vielleicht kann der Blick vermeintlicher Verlierer in der gesellschaftlichen Atmosphäre, in der wir uns gerade befinden, ja mitunter ganz hilfreich sein. Drei Annäherungen dazu.

„Zum Teufel mit der Kirche — Hat eine wutschnaubende Gesellschaft noch Christen nötig?“, das war die Leitfrage für diesen Beitrag. Und eine Suche nach der Antwort beginnt mit der Frage: Was ist das für eine Atmosphäre zurzeit?

Die Erfahrungen ähneln sich: Der Ton wird rauer, vergifteter. Pauschalurteile haben Hochkonjunktur. Die Politiker, die Wirtschaft, die Medien, die Kirchen, das Establishment, aber auch die Flüchtlinge.

Lange war es ein diffuses Bild, eher ein Gefühl — ehe sich daraus eine gesellschaftliche Dynamik entwickelte. Waren zum Beispiel die Wutbürger von Stuttgart noch eine demokratische Emanzipation von den Institutionen? Oder doch schon Vorboten des neuen Populismus, in dem sich eine nicht mehr verhandelbare Grundablehnung ausdrückt? Sicher scheint fürs Erste: Wo diese Grundablehnung greift, ist kein Raum mehr für Differenzierung. Da wird es unangenehm, scharf, schnell auch aggressiv.

Jeder von uns, jeder Christ, jeder Muslim, jeder Unternehmer, jeder Journalist und Politiker, steht in dieser Weltsicht viel mehr für das Ganze als je zuvor. Das Problem sind dabei weniger die geifernden „Lügenpresse“-Rufe von Dresden und anderswo. Das Problem ist, dass die fortwährenden Tabubrüche, Provokationen und Aggressionen von den Rändern in abgemilderter Form ins Herz der Gesellschaft vordringen. Und dieses leise Einsickern passiert nicht nur irgendwo im Osten, es passiert überall mitten unter uns: in unseren Gemeinden, in unseren Unternehmen, vielleicht auch in uns selbst.

Und Raushalten funktioniert nicht mehr. Wir können nicht so tun, als beträfe uns das nicht. Als ich vor sechs Jahren für meine Zeitung die angekündigte Koranverbrennung durch den evangelikalen US-Pastor Terry Jones kommentieren sollte, habe ich noch gedacht: Was habe ich als Christ in Deutschland mit so einem durchgeknallten Idioten zu tun? Heute würde sein Wahnsinn vermutlich auch mir vor die Füße fallen. So wie der Terror des IS den Muslimen vor die Füße fällt oder der Kundenbetrug des VW-Konzerns jedem rechtschaffenden Mittelstandsunternehmen. Wer behauptet, dieser ganze Irrsinn habe nichts mit ihm und seinem Verständnis von Politik, Religion oder Wirtschaft zu tun, verkennt die Sogwirkung, die ein Feindbild auf alle ausübt, die darunter nur irgendwie zusammengefasst werden können.

Das heißt im Umkehrschluss: Wer Fehlentwicklungen in den eigenen Reihen nicht widerspricht, trägt mit dazu bei, dass diese Fehlentwicklungen von einer schäumenden Öffentlichkeit für das Ganze ausgegeben werden. Wir müssen wieder hörbarer für das streiten, wovon wir überzeugt sind: von dem Wert einer freien Presse, von dem Wert einer sozialen Marktwirtschaft, von der Menschenfreundlichkeit unserer Religion. Und wir müssen fähig sein, dort zu widersprechen, wo Medien zynisch werden, Wirtschaft asozial und Religion menschenverachtend.

Wenn wir uns auf die Suche machen nach den Ursachen für die spürbare Wut und Verrohung des gesellschaftlichen Lebens, werden wir fragen müssen nach unserem Verhältnis zu Verlierern in einer Gesellschaft der Gewinner und des Gewinns. Und wir werden fragen müssen nach dem Grad der sozialen Gerechtigkeit, den diese Gesellschaft benötigt, um zukunftsfähig zu sein.

Der Verleger und Journalist Jakob Augstein macht eine „Koalition der Angst“ als Ursache für all den Hass und die Verachtung aus. Sie bestehe zum einen aus einem „Dienstleistungsproletariat“, das vielen anderen das Leben leichter mache, selbst aber von der Globalisierung nicht profitiere. Der zweite Koalitionspartner seien die „Verbitterten“, die trotz Bildung und Leistungsbereitschaft nicht den erwünschten Wohlstand erreicht hätten.

Ich glaube, wir alle werden noch einmal stärker als bisher überprüfen müssen, ob wir überhaupt noch in der Lage und willens sind, Brücken zu diesem Dienstleistungsproletariat, zu diesen Verbitterten zu bauen. Die Kirche verweist in diesen Momenten gerne auf ihre Diakonie. Aber ist sie auch in der Lage, diese Abgehängten und Verbitterten in die Mitte der Gemeinde zu holen? Wen erreichen wir mit dem, was wir tun? Wessen Sprache sprechen wir: die der Abgehängten, Verbitterten, die der von Abstiegsängsten geplagten? Ich habe da meine Zweifel — immer mal wieder auch bei meinen eigenen Predigten.

Ich habe auch meine Zweifel, ob die Betriebe, die so oft klagen, dass das Niveau und die soziale Kompetenz der Lehrstellenbewerber nachlasse und man so viele nicht gebrauchen könne, ob diese Betriebe ein Gefühl dafür haben, welcher gesellschaftliche Bodensatz aus denen entstehen kann, die durch das Raster der Anforderungen fallen.

Und ich habe meine Zweifel, ob wir Journalisten noch gewillt sind, zuzuhören. Es gab da eine kleine Szene am Morgen nach der US-Wahl. Eine Fernsehreporterin im deutschen Fernsehen hatte via Skype einen Wähler der Republikaner zugeschaltet, einen Bauern irgendwo im weiten Land. Der Mann sah weder unsympathisch aus noch fanatisch. Aber er sah sich einem Verbalfeuerwerk der Reporterin ausgesetzt, die sichtbar auf einen knackigen zweiminütigen Schlagabtausch gepolt war. Das wäre aber die Zeit gewesen, die ihr Interviewpartner allein benötigt hätte, um sich zu sammeln, zu überlegen, nach Worten zu suchen. Da war das Interview aber schon wieder vorbei — und der Landwirt ein bisschen als Trottel vorgeführt. Welches Bild von Medien bleibt in einem solchen Menschen hängen? Und wird er irgendwann noch mal die Presse als Fürsprecher der einfachen Leute gegen die Mächtigen wahrnehmen?

Mit Verbitterten, Abgehängten, Verunsicherten ins Gespräch zu kommen, ist meist unangenehm. Aber unsere Fehler und Versäumnisse lassen sich nicht wegschweigen. Sie melden sich irgendwann wieder zurück — lauter und destruktiver, als es jede Gesellschaft verträgt. Das ist die Lehre in dieser aufgeputschten Zeit.

Den neuen Wutbürgern wird gerne vorgehalten, sie würden nur noch ihre Partikularinteressen vertreten und das Gemeinwesen aus dem Blick verlieren. Ja, das stimmt oft. Die Empörung ist groß, wenn etwas vor der eigenen Haustür passiert; ansonsten ist das Interesse eher klein. Aber andererseits: Die demokratische Kärrnerarbeit in Ausschüssen, im Planungsrecht beispielsweise, ist ganz oft auch von außen schwer verstehbar, ein rätselhaftes Insidergeschäft. Wer dort einen unbedarften Blick hineinwirft, kann schnell den Eindruck einer verschworenen Elite gewinnen.

Bei der Pressekonferenz eines Bündnisses aus Arbeitgebern, Gewerkschaften und Kirchen für ein weltoffenes und tolerantes Nordrhein-Westfalen hat der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck einen sehr schönen Satz gesagt: „Wir müssen eine Erzählung finden, die emotional deutlich macht, auf welchem Weg wir uns befinden.“

Das ist genau das, um was es geht: eine Erzählung zu finden. Eine Erzählung ist keine Belehrung, keine Besserwisserei. Einer Erzählung haftet nichts Dünkelhaftes oder Arrogantes an. Eine Erzählung der Oma nimmt ihre Enkel mit auf eine erfahrungsgetränkte Reise, auf der nachvollziehbar wird, warum Frieden besser ist als Krieg, warum Demokratie menschenfreundlicher ist als Diktatur, warum nachgiebige Liebe die Welt besser macht als unnachgiebiger Hass.

Ich fürchte, die Sprache der Behörden und Politiker, die Sprache der Börsen und Journalisten und auch der Kirchen redet an diesen Erzählungen viel zu häufig vorbei. Sie ist mehr damit beschäftigt zu überzeugen und zu beeindrucken als mitzunehmen. Gerade daher noch einmal die Frage: Hat eine wutschnaubende Gesellschaft noch Christen nötig? Meine Antwort lautet Ja — und das aus drei Gründen.

Die Kirche, evangelische wie katholische, befindet sich nach meiner Wahrnehmung in einer doppelten Drucksituation. Auf der einen Seite leidet sie unter einem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust, in seiner freundlichen Variante durch schlichtes Ignoriertwerden, in der hässlicheren Form durch offene Anfeindung. Auf der anderen Seite steht eine Zuspitzung der gesellschaftlichen Situation, die ihr christliches Weltbild gerade jetzt besonders herausfordert. Ich sehe darin eine große Chance für die Kirche, aus der Trauer und der Sorge um die eigene Entwicklung herauszufinden hin zu einer neuen Verantwortung für die Gesellschaft, in der sie wirkt.

In der Flüchtlingsarbeit wird das jetzt schon deutlich. Und eine solche Positionierung wird noch stärker im politischen und gesellschaftlichen Streit gefordert sein, der uns ins Haus steht. Kirche tut gut daran, Parteipolitik zu meiden. Aber Kirche ist immer Partei — so wie das Evangelium Partei ist: wo Menschen Unrecht geschieht, wo Randgruppen zu Feindbildern stilisiert werden und als Sündenböcke dienen, um dem Hass die Bahn zu bereiten.

„Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen“, dieser Satz, den Dietrich Bonhoeffer seiner Kirche und ihrem unerträglichen Versagen in der NS-Diktatur entgegengeschleudert hat, er muss der Kirche von heute wieder als Weckruf in den Ohren klingeln. Wo Teile der Gesellschaft in hysterischer Dauerempörung bereit sind, alles zu opfern, was sich an zivilisatorischer Errungenschaft seit der Barbarei des Nationalsozialismus entwickelt hat, gilt es eine Empörungsfähigkeit zu schulen, die diese Grenzverletzungen nicht achselzuckend hinnimmt; gemeint ist eine Empörungsfähigkeit, die nicht auf Menschenverachtung gründet, sondern auf Empathie.

Der christliche Glaube hat nach meinem Verständnis geradezu den Auftrag, so in der Welt sichtbar zu werden: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Geschwistern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Vor diesem Auftrag verlieren alle Mitgliederstatistiken, Haushaltsdiskussionen und Gebäudekonzeptionen an Bedeutung — weil Kirche beim Widerspruch gegen die Unmenschlichkeit bei ihrem Kern angelangt ist. Sie könnte damit Orientierungspunkt werden für eine Gesellschaft, die um ihren sozialen Frieden ringt.

In das christliche Gottesbild ist unauslöschlich der Gegenentwurf zu jedem menschengemachten Pauschalurteil eingewoben: Gott sieht jeden Menschen an; er gibt jedem einzelnen Menschen seinen unverwechselbaren Wert — mehr noch: In jedem Menschen scheint Gott selbst auf, weil er ihn nach seinem Bilde schuf.

Diese unverbrüchliche Zusage, niemanden aus dem Blick zu verlieren, kann kein Staat geben, keine Partei, kein Unternehmen, auch keine Kirche im Übrigen. Aber sie ist gehalten, dieser Zusage Gottes immer wieder Geltung zu verschaffen. An ihr ist es, sich selbst und uns daran zu erinnern, dass die Unantastbarkeit der menschlichen Würde nicht nur ein auf menschlichen Vereinbarungen beruhender Verfassungsgrundsatz ist, sondern das Fundament der biblischen Schöpfungsgeschichte.

Die Konsequenz daraus kann nur heißen: Christen sind dazu aufgefordert, ihrerseits allen Versuchungen zu widerstehen, die Einzigartigkeit jedes Menschen durch Pauschalurteile zu ignorieren. Und das gilt durchaus in alle Richtungen: Ja, es gilt natürlich für Flüchtlinge, Muslime, Ausländer, die bewahrt werden müssen vor jedem Generalverdacht. Schau den einzelnen Menschen an, sein Tun und Unterlassen, seine Nöte und Bedürfnisse, bilde dir über ihn ein Urteil und schließe nicht von ihm auf andere — dieser Anspruch hat aber auch Gültigkeit für die graue und bedrohliche Masse derer, die in ihrer Wut unsere gesellschaftlichen Konventionen derzeit so infrage stellen.

Vom Leverkusener Superintendenten Gert-René Loerken stammt die Klage: „Wir waren einmal eine Kirche der Hoffnung und sind eine Kirche der Strukturprozesse und Haushaltskonsolidierung geworden.“ Und diese Prozesse sind noch nicht an ein Ende geraten. Ein Kleinersetzen, der Abschied von vertrauten Aufgabenfeldern, wird auch die kirchliche Zukunft prägen.

Da erstaunt es, was Manfred Rekowski, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, ausgerechnet zum Auftakt des Reformationsjubiläums gefordert hat: eine Abstimmung zwischen den Konfessionen. Nicht mehr die Frage, was die evangelische Kirche noch leisten kann und was nicht, soll im Mittelpunkt stehen. Sondern die Frage, was beide christliche Konfessionen in gegenseitigem Vertrauen und stellvertretend füreinander noch wo leisten können.

Nicht das einzige ökumenische Aufbruchszeichen. Der Papst besucht anlässlich des Reformationstages den Lutherischen Weltbund. Und die Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz rufen zum Reformationsjubiläum gar einen Versöhnungsprozess aus, der die gegenseitigen Wunden benennen und heilen soll.

Wer nur ein bisschen Geschichtsbewusstsein und Erinnerungsvermögen hat, wie unversöhnlich, ja hasserfüllt sich die christlichen Konfessionen schon gegenübergestanden haben, kann nur dankbar sein für diese neuen Perspektiven. Und er bekommt eine Ahnung davon, wie die Suche nach dem Gemeinsamen einer zerrissenen Kirche Beispiel werden könnte für die Suche nach dem Gemeinsamen einer zerrissenen, wutschnaubenden Gesellschaft.