Wulff zieht über die Politik vom Leder
Bundespräsident warnt vor massivem Aufkauf von Anleihen. Kanzlerin Merkel auch in der eigenen Fraktion in Bedrängnis.
Berlin. Der Regierungssprecher rollt verzweifelt mit den Augen: „Koalitionen-übergreifend“ sei es guter Brauch, dass die Bundesregierung nicht zu Reden des Staatsoberhauptes Stellung bezieht, erinnert Steffen Seibert vor der Bundespressekonferenz.
Aber mit der Körpersprache signalisiert er, dass es einiges zur Fundamentalkritik des Bundespräsidenten Christian Wulff zu sagen gebe. Der hatte ein Treffen mit Nobelpreisträgern der Wirtschaftswissenschaften in Lindau genutzt, um kräftig gegen die Finanzpolitik vom Leder zu ziehen.
„Ich halte den massiven Aufkauf von Anleihen einzelner Staaten durch die Europäische Zentralbank für rechtlich bedenklich“, so Wulffs Kernsatz. Das entsprechende Volumen der jüngsten Wochen liegt, so Insider, bei 100 Milliarden Euro.
Wulff warf Europas Spitzenpolitikern politische Kurzatmigkeit vor. Immer öfter „treffen sie eilig weitreichende Entscheidungen kurz vor Börseneröffnung, anstatt den Gang der Dinge längerfristig zu bestimmen“. Und er fügte mahnend hinzu: „Dies trifft unsere Demokratien im Kern.“
Das Staatsoberhaupt wandte sich direkt an die Nobelpreisträger: „Für wen würden Sie persönlich bürgen? Für die eigenen Kinder, hoffentlich ja. Für die Verwandtschaft? Da wird es schon schwieriger.“ Auch ein Bürge könne sich unmoralisch verhalten, wenn er eine Insolvenz nur verzögere. Das nennt Wulff eine Politik, die dem Motto gehorche: „Nach mir die Sintflut.“
Für Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ist die Kritik ein Nackenschlag und ihr zweiter Kontakt mit unerfreulichen politischen Realitäten in kurzer Zeit. In der Fraktions-Sondersitzung der CDU/CSU wollten Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble die Ausweitung des Euro-Rettungsschirms erläutern.
238 Abgeordnete zählt die Bundestagsfraktion der Union. 70 Volksvertreter hatten nicht den Weg nach Berlin gefunden. Dass dahinter ein politischer Protest stehe, glaubt man in der CDU-Spitze nicht.
Aufgeheizt war die Sitzung durch einen Vorschlag von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen. Sie regte an, Rettungskredite nur noch zu gewähren, wenn die Empfänger dies durch Goldreserven oder sonstige Besitztümer absichern können. „Nett“ sei die Idee, urteilte Merkel geringschätzig.
Fraktionschef Volker Kauder glaubt, dass am 23. September eine Regierungsmehrheit mit der FDP zustande kommt. Vize-CDU-Fraktionschef Wolfgang Bosbach berichtet indes, dass sich die Zahl der Kritiker und Befürworter in der Fraktionsdebatte die Waage gehalten habe.