Düsseldorf. Sie war das Küken, er war der Senior. Jetzt scheiden Anna Lührmann (26) und Otto Schily (77) aus dem Bundestag aus.
Der einstige "rote Sheriff" will sich nun um die Enkel und seine Olivenbäume in der Toskana kümmern, während es die Grünen-Politikerin in den Sudan zieht. In einem gemeinsamen Interview sprechen Lührmann und der ehemalige SPD-Innenminister über das Leben nach der Politik und streiten sich über Generationengerechtigkeit, Rekordschulden und die Rente.
Frau Lührmann, Herr Schily, zum Ende der Legislaturperiode scheiden Sie aus dem Bundestag aus. Befällt Sie Wehmut?
Lührmann: Nein, ich habe zum Abschied ein gutes Gefühl und blicke ohne Reue auf meine Berliner Zeit zurück. Ich hoffe auch, dass ich irgendwann wieder die Möglichkeit habe, in Berlin zu arbeiten. Vielleicht sogar als Abgeordnete.
Schily: Ein bisschen Wehmut kommt schon auf. Denn bei allen Gegensätzen und allem notwendigen Streit in der Sache wachsen die Abgeordneten im Bundestag zu einer Art Familie zusammen. Doch jeder Lebensabschnitt hat seine neue Faszination und seine Vorzüge. Ich bin nicht mehr so eingebunden in Termine.
Was machen Sie nach dem 27. September?
Schily: Ich habe meine Anwaltskanzlei und eine kleine Consultingfirma. Im Übrigen muss ich mich um meine Olivenbäume in der Toskana kümmern - und um meine Enkel.
Anwalt, Berater, Enkel und Olivenbäume - füllt Sie das aus?
Schily: Aber natürlich. Es bleibt mir endlich mehr Zeit für Literatur, Theater und Klavierspiel. Vielleicht hole ich auch wieder mein Cello aus der Ecke. Musik ist bekanntlich für mich ein Lebenselixier.
Frau Lührmann, Sie sitzen auf gepackten Koffern?
Lührmann: So ist es. Ich gehe mit meinem Mann und meiner kleinen Tochter in den Sudan nach Khartum. Dort werde ich erstmal an einer Frauenuniversität studieren und Arabisch lernen. Es gibt genug zu tun...
Dennoch sehen Sie Ihre Tochter regelmäßig. Sie, Herr Schily, konnten sich früher nicht so viel Zeit nehmen für Ihre Töchter.
Schily: Das ist leider so. Meine Töchter haben mir manchmal Zettel geschrieben, auf denen stand: Papa, wann kommst du endlich zum Spielen. Das waren schon schmerzhafte Momente. Als Opa bin ich nun hoffentlich besser und nehme mir mehr Zeit für meine Enkel.
Sind Sie ein strenger Großvater?
Schily: Nein. Es ist doch so: Wenn die Eltern einmal streng sind und es gibt kein Bonbon vom Papa, gehen sie eben zu den Großeltern. Oma und Opa sind immer die Ausgleichenden.
Frau Lührmann, Sie sind 26. Herr Schily, Sie sind 77. Wann ist der perfekte Zeitpunkt für das Ausscheiden aus dem Bundestag?
Lührmann: Das muss jeder für sich beantworten.
Schily: Frau Lührmann hat Recht, dafür gibt es kein Schema. Vielleicht kommt sie später zurück und wird Ministerin.
Was vermissen Sie am meisten, wenn Sie ausscheiden?
Lührmann: Mir wird der Gestaltungsspielraum fehlen, den ich vor allem zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung hatte. Die Möglichkeit, mitzubestimmen und zu verändern. Und man ist als Abgeordneter sein eigener Chef. In vielen anderen Berufen ist das nicht der Fall.
Schily: Dieses Problem hatte ich als Selbstständiger nie. Ich werde aber vermissen, ebenso wie Frau Lührmann, dass ich künftig nicht mehr unmittelbar ins politische Geschehen eingreifen kann.
Herr Schily, Frau Lührmann kam mit 19 Jahren in den Bundestag. Kann man in so jungen Jahren die Sachverhalte im Bundestag schon richtig einordnen?
Schily: Frau Lührmann kam sehr jung ins Parlament, was aber doch durchaus erfrischend war für die parlamentarische Arbeit. Sie hat eine ganz andere Biographie als ich und kann die Mentalität der Jugend sicherlich besser vermitteln. Die Jugend wächst heute im Vergleich zu früheren Zeiten mit ganz anderen Informationszugängen und anderen Beteiligungsmöglichkeiten auf.
Lührmann: Ich habe schon mit zehn Jahren politische Diskussionen geführt.
Schily: Man sollte aber auf der Hut sein, nicht die Kindheit zu zerstören und ein Kind zu früh zu intellektualisieren. Deshalb bin ich, anders als die Grünen, auch nicht dafür, das Wahlrecht zu weit herabzusetzen. Wie dem auch sei, Frau Lührmann ist gut beraten, nun eine Pause zu machen. Die Karrieren von Berufspolitikern, die nie etwas anderes gemacht haben, halte ich für sehr fragwürdig. Ein Politiker muss sich mit einem ordentlichen Beruf im Leben bewährt haben. Diesen braucht er auch als Rückzugsmöglichkeit, damit er nicht von der Politik abhängig wird.
Frau Lührmann, neigen ältere Abgeordnete nicht zum Starrsinn und behindern somit den parlamentarischen Betrieb?
Lührmann: Ich wehre mich extrem dagegen, Leute aufgrund ihres Alters, des Geschlechts oder der Herkunft zu beurteilen. Wir brauchen eine gesunde Mischung aus jungen und alten Parlamentariern. Wir bräuchten zudem noch mehr Abgeordnete mit einem einfachen beruflichen Hintergrund oder mit Migrationshintergrund.
Schily: Richtig. Derzeit gibt es vor allem zu wenig 35- bis 45-Jährige im Bundestag. Vielleicht interessiert sie die Arbeit im Parlament nicht. Womöglich finden sie auch die Bezahlung nicht attraktiv genug.
Sollten Abgeordnete also mehr Geld bekommen?
Schily: Nein, wir sind gut versorgt, aber nicht überversorgt. Wer um des Geldes willen Politik macht, ist fehl am Platz. Ich finde übrigens den Wechsel von der Politik in die Wirtschaft und anders herum durchaus legitim.
Lührmann: Ein Abgeordneter sollte aber nicht zum selben Zeitpunkt in der Wirtschaft tätig sein.
Schily: Dem stimme ich in dieser Allgemeinheit nicht zu. Es ist in Ordnung, wenn Parlamentarier ihren ursprünglichen Beruf beibehalten, sofern es zeitlich vertretbar ist. Ich war auch Anwalt und Abgeordneter.
Lührmann: Dann muss es aber transparent dargestellt sein.
Im Kampf gegen die Krise nimmt der Bund dieses Jahr neue Rekordschulden auf. Versündigt er sich damit nicht an den nächsten Generationen?
Lührmann: Grundsätzlich kann der Bund in der Krise Schulden aufnehmen - wenn das Geld in den Bau neuer Schulen oder in nachhaltige Jobs fließt. Doch es hat eine fatale Fehlentwicklung eingesetzt. Der Bund verschuldet sich immens und stellt fünf Milliarden Euro als Abwrackprämie bereit, damit die Bürger intakte Autos auf den Schrottplatz bringen. Das ist absurd und das genaue Gegenteil von Nachhaltigkeit. Dafür muss nicht nur die junge Generation, sondern wir alle in den kommenden Jahrzehnten teuer bezahlen.
Schily: Wenn in der Automobilbranche die Arbeitsplätze wegbrechen, dann sind sie für immer verloren. Deshalb war die Abwrackprämie als eine Überbrückung vertretbar. Die Verkaufszahlen werden jetzt allerdings zurückgehen. Wenn sich die Konjunktur hoffentlich demnächst erholt, wird der Absatz auch ohne Prämie wieder steigen.
Lührmann: Sie geben ja gerade selber zu, dass die Abwrackprämie nicht dauerhaft für Jobs in Deutschland sorgt. Das Problem wird einfach ein paar Monate verschoben. Der Bund verplempert dadurch Milliarden und gibt für das Verschrotten von Autos so viel aus wie für das Elterngeld und den Kinderzuschlag zusammen. Und es ist doppelt so viel wie für den Klimaschutz.
Schily: Frau Lührmann, bedenken Sie, was an Steueraufkommen ausbleibt, wenn Tausende Arbeitsplätze in der Autobranche verloren gehen. Es freut mich aber, dass wir noch ein bisschen streiten.
Lührmann: Weil wir aus dem Bundestag ausscheiden, haben wir ja noch lange nicht die Leidenschaft für politische Themen verloren.
Sie dürfen sich gerne auch über das Rententhema streiten. Im Sommer hat der Bund beschlossen, dass die Renten nicht sinken, selbst wenn die Löhne zurückgehen. Was halten Sie von der Rentengarantie?
Lührmann: Nichts. Von der Lohnentwicklung muss die Rentenentwicklung abhängen. In anderen Worten: steigen die Löhne, müssen auch die Renten steigen. Wenn die Löhne sinken, können die Renten nicht steigen. Doch diesen fundamentalen Grundsatz im Rentensystem hat die Regierung nun ausgehebelt. Das wird noch zu enormen Kosten führen, die die Arbeitnehmer schultern müssen.
Schily: Ich halte die Rentengarantie für nicht besonders dramatisch. Denn festgeschrieben ist nur die Basisrente. Ich finde, wir haben heute ein gutes Rentensystem mit der Basisrente, der Riesterrente und der Betriebsrente. Im Übrigen müssen die Rentner auch an der Wertschöpfung angemessen teilhaben, zumal einige Renten sehr dürftig sind.
Was können Politiker machen, um gerade bei jungen Leuten das Interesse an Politik und der aktiven Teilhabe zu stärken?
Lührmann: Das Interesse kann man durch konkrete Diskussionen stärken, die die Lebenswelt der Leute unmittelbar betreffen. Wichtig ist auch die Partizipation im Wahlkampf: Abgeordnetenwatch beispielsweise finde ich großartig. Hier kann der Bürger konkrete Fragen an seinen Abgeordneten stellen. Zudem sollten die Parteien das umsetzen, was sie im Wahlkampf versprochen haben. Das stärkt das Vertrauen in Demokratie und Politik.
Schily: Es darf keine falschen Versprechungen geben. Wenn eine Partei behauptet, es gäbe derzeit große Möglichkeiten der Steuersenkung, dann täuscht sie die Bürger. Was Frau Merkel macht, ist albern: Sie kündigt eine Steuersenkung durch die Anrechnung der Krankenversicherungsbeiträge zum 1. Januar an. Das nennt sie dann Wahlprogramm. Dabei hat die große Koalition diesen Punkt bereits beschlossen. Oder denken Sie an Herrn Westerwelle, dem ich ohnehin kein Wort glaube, wenn er von Steuersenkungen redet. Er kündigt an, dass er ein Ehepaar mit zwei Kindern bis 40 000 Euro Einkommen ganz von der Steuer befreien will. Westerwelle verschweigt, dass dies heute schon Gesetzeslage ist. Vor solchen Albernheiten muss der Wähler auf der Hut sein. Politiker müssen mit den Leuten ehrlich und klar reden. Dann kann man davon ausgehen, dass das Vertrauen in die Politik wieder wächst.
Frau Lührmann, was würden Sie als den größten politischen Fehler und Erfolg von Herrn Schily sehen?
Lührmann: Ich maße mir hier kein Urteil an.
Schily: Bei der Umorganisation des Bundeskriminalamtes gab es erhebliche Verwerfungen. Wir hätten im Vorfeld mehr Überzeugungsarbeit bei den Mitarbeitern leisten müssen. Das war sicher ein Fehler. Der größte Misserfolg war das Scheitern des NPD-Parteiverbots. Dem stehen aber große Erfolge gegenüber, die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, das Zuwanderungs- und Integrationsgesetz und die erfolgreiche Abwehr des Terrorismus. Ich bin sehr stolz darauf, dass unsere Sicherheitsbehörden bis heute alle auf Ziele in Deutschland gerichteten Terrorpläne rechtzeitig aufdecken und verhindern konnten.
Als Bundesinnenminister drohten Sie Terroristen: "Wenn ihr den Tod so liebt, dann könnt ihr ihn haben." Würden Sie diesen Satz heute noch einmal so formulieren?
Schily: Ja selbstverständlich. Das war die harte Antwort auf den Ausspruch eines islamischen Hasspredigers: "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod." Man darf meine Erklärung aber nicht in Richtung Todesstrafe interpretieren. Ich bin ein entschiedener Gegner der Todesstrafe. Aber wenn Terroristen uns angreifen, dann müssen wir uns mit der gebotenen Härte zur Wehr setzen. Davon bin ich nach wie vor überzeugt.