Familie mit drei oder mehr Kindern Warum es den Kinderreichtum kaum noch gibt
Düsseldorf · Die Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Frühere Familienmodelle funktionieren nicht mehr. Für die Bevölkerungsentwicklung hat das spürbare Konsequenzen.
Kinderreichtum – früher war das mal ein Normalzustand. Von den 1933 geborenen Frauen bekam noch jede Dritte drei oder mehr Kinder. Beim Geburtsjahrgang 1975 war es nur noch jede Sechste. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) hat in einer am Dienstag veröffentlichten Studie noch weit mehr Fakten und Folgerungen auf den Tisch gelegt. Wie etwa diese: 38 Prozent aller Frauen der Jahrgänge 1965 bis 1974 in Deutschland haben zwei Kinder geboren. 25 Prozent bekamen ein Kind und rund 20 Prozent blieben kinderlos. Nur 16 Prozent dieser Frauen haben drei oder mehr Kinder zur Welt gebracht.
Die Ursachen liegen auf der Hand: In einer Gesellschaft, in der es anders als früher selbstverständlich und manchmal auch wirtschaftlich notwendig ist, dass auch die Frau einer Erwerbsarbeit nachgeht, wird eben dieses Modell umso schwerer zu verwirklichen sein, je mehr minderjährige Kinder zu betreuen sind. So sagen auch die Macher der Studie: „Je mehr Kinder im Haushalt leben, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit einer Vollzeiterwerbstätigkeit der Frau und desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie gar nicht mehr am Arbeitsmarkt teilnimmt.“ Weil aber viele Frauen in der modernen Gesellschaft nicht auf das traditionelle Familienmodell (Mann als „Haupternährer“) setzen mögen, kommt es zu der geschilderten Entwicklung.
Für Akademikerinnen schließt sich das Zeitfenster schnell
Akademikerinnen bekommen ihr erstes Kind im Durchschnitt mit 32 Jahren. Dadurch, so die Analyse, werde das Zeitfenster für weitere Geburten deutlich kleiner. Selbst wenn es dann noch den Wunsch nach drei und mehr Kindern gibt, lässt dieser sich kaum mehr umsetzen.
Kinderreichtum wird in der Gesellschaft stark in Verbindung mit Menschen aus bildungsfernen Schichten gebracht. Das wiederum trägt zur Stigmatisierung von kinderreichen Familien bei. Die Experten vom BiB wollten eben diese These abklopfen. Sie befragten junge Erwachsene. Ergebnis: Nicht einmal jeder zehnte Befragte stimmt der Aussage zu, Kinderreiche seien „asozial“. Gleichzeitig gaben aber über 80 Prozent an, dass sie glauben, dass Kindereiche von der Gesellschaft als „asozial“ angesehen werden.
1,4 Millionen Familien mit drei und mehr Kindern
Derzeit gibt es in Deutschland 1,4 Millionen kinderreiche Familien, in denen sieben Millionen Menschen leben. Nicht mitgerechnet sind Mehrkindfamilien, in denen Kinder aus früheren Partnerschaften der Eltern unter einem Dach zusammenkommen. Mit kinderreichen Familien sind diejenigen gemeint, bei denen die Eltern drei oder mehr leibliche Kinder haben. Hier liegt Deutschland mit seinen 16 Prozent im europäischen Vergleich im unteren Mittelfeld. In Norwegen (33 Prozent) Finnland (29 Prozent) und Schweden (27 Prozent) ist der Anteil erheblich höher. Irland ist Rekordhalter mit 36 Prozent. Am anderen Ende der Tabelle liegen Spanien mit 11, Italien mit 12 und Portugal mit 15 Prozent.
Während im bundesweiten Vergleich nur 14 Prozent der Frauen ohne Migrationshintergrund kinderreich sind, sind es bei Frauen mit Migrationshintergrund doppelt so viele: 28 Prozent.
Im Vergleich der Bundesländer liegt nach den Zahlen der BiB-Studie Nordrhein-Westfalen mit 16,5 Prozent leicht über dem Bundesdurchschnitt. Am meisten kinderreiche Mütter gibt es in Baden-Württemberg (20,6 Prozent). Die geringste Quote hat Sachsen-Anhalt. Aber auch in den anderen ostdeutschen Ländern liegt sie ähnlich tief, wofür die Analysten eine sich aus der Historie ergebende Erklärung haben: Die Anforderungen an die Erwerbstätigkeit von Frauen in der ehemaligen DDR senkte deren Bereitschaft, weitere Kinder zu bekommen. Die Zwei-Kind-Norm und auch die Akzeptanz von Einzelkindern sei bis heute in Ostdeutschland verbreitet.
Innerhalb von NRW gibt es auch starke Unterschiede. Düsseldorfer haben es nicht so mit Kinderreichtum, die Landeshauptstadt liegt abgeschlagen bei 11,9 Prozent, Wuppertal kommt auf 16,7 Prozent.
Warum kommt es mancherorts zu einem überdurchschnittlich hohen Anteil kinderreicher Frauen? Das erklären die Experten vom BiB so: Zu den dafür verantworlichen Faktoren zählten oftmals eine starke katholische Prägung, überwiegend ländlich strukturierte Kreise oder die Verfügbarkeit größerer Wohnungen.
Die Wohnsituation ist einer der Hinderungsgründe
Überhaupt scheint das Wohn-Thema bei der Frage, ob Eltern das Wagnis einer kinderreichen Familie eingehen, eine große Rolle zu spielen. Gerade in Großstädten ist der Wohnraum meist auf Familien mit zwei Kindern ausgelegt. Das führt zu einer im Ergebnis drastischen Verteilung der Wohnfläche: Mehrkindfamilien (also fünf Köpfe und mehr) leben im Schnitt auf einer Wohnfläche von rund 134 Quadratmetern, während Paare ohne Kinder etwa 99 Quadratmeter für sich zur Verfügung haben. Forschungsdirektor Martin Bujard vom BiB sagt: „Verbesserungen der Infrastruktur für Familien vor Ort, bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie mehr Wohnungen mit fünf oder sechs Zimmern können helfen, dass Kinderwünsche realisiert werden.“
Das Absinken der Geburtenrate in den vergangenen Jahrzehnten ist nach Berechnungen des BiB nur zu 26 Prozent auf den Anstieg der Kinderlosigkeit zurückzuführen, aber zu 68 Prozent auf den Rückgang kinderreicher Familien. Um eine Geburtenrate von knapp über zwei Kindern pro Frau zu erreichen, genügt es nach der Analyse des BiB nicht, Kinderlosen die Familiengründung zu ermöglichen. Vielmehr müsste sich der Anteil der Familien erhöhen, die sich für ein drittes oder weiteres Kind entscheiden.