Kriegsschauplatz Schule in Paris

Schüler werden getötet, Lehrer treten in den Streik. Denn sie werden der Gewalt nicht Herr. Die Politik reagiert bislang verhalten.

Paris. Beim ersten Hinsehen wirkt das "Lycée Adolphe-Chérioux" in Vitry-sur-Seine wie eine Oase. Umgeben von einem 36 Hektar großen Park, verteilen sich die 1.500 Schüler in dem Campus auf ein halbes Dutzend Gebäude. Doch die Idylle trügt.

Tatsächlich verkörpert das Adolphe-Chérioux derzeit wie keine andere Oberschule in der berüchtigten Pariser Banlieue, der Vorstadt mit ihren sozialen Brennpunkten, den Alptraum Schule.

Vor fast drei Wochen spazierte eine bewaffnete Gang von vier, fünf Randalierern unbehelligt übers Schulgelände und rammte einem 14-Jährigen ein Messer in den Oberschenkel, ein anderer feuerte dabei Pistolenschüsse ab. Ein schockierender Vorfall, der das Fass zum Überlaufen brachte. "Nun reicht’s", sagten sich die 150 Lehrer des Kollegiums und traten tags darauf in den Streik.

"Das Lycée Adolphe Chérioux ist nur die Spitze des Eisbergs", sagt Jean-Michel Gouézou, selbst Lehrer und Sekretär der Lehrergewerkschaft SNES. Und verweist auf den Kriegsschauplatz Schule in der Pariser Banlieue.

Denn knapp einen Monat zuvor haben Unbekannte im Lycée Darius-Milhaud im selben Département Val-de-Marne einen 18-Jährigen mit drei Messerstichen getötet. Im Mai 2009 wurde ein Gymnasiast (17) im Lycée Gabriel-Péri erstochen, während ein 17-Jähriger im März 2009 nördlich von Paris mit schweren Verletzungen durch Stiche davon kam.

Was die Bronx in New York, ist die Banlieue in Paris. Es ist eine kalte Wut, die in vielen verzweifelten Lehrern aufsteigt, gemischt mit Ohnmacht und dem beklemmenden Gefühl, weder von der Regierung noch von der Gesellschaft anerkannt zu werden.

Der Terror gewalttätiger Banden gehört längst zum Schulalltag in dem ohnehin durch Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Perspektivlosigkeit geprägten Häusermeer rund um die strahlende Lichterstadt. "Dass sie mitten im Unterricht in die Klasse hineinplatzen und einzelne Schüler verprügeln, ist leider Normalität", umreißt Jean-Michel Gouézu das Problem. Und fügt hinzu: "Du stehst daneben und kannst nichts tun."

Eigentlich paradox: Just jener Präsident Nicolas Sarkozy, der im Wahlkampf vor drei Jahren angekündigt hatte, für mehr Sicherheit in Frankreich sorgen zu wollen, steht nun wegen nicht gehaltener Versprechen am Pranger.

"Eigentlich müssten wir an der Schule in Vitry 22 Aufseher haben, tatsächlich sind es elf", klagt eine Lehrerin. Symptomatisch aus Sicht der Lehrergewerkschaft, für sie eine Folge von Sarkozys drastischer Rotstiftpolitik. "Sie bauen überall Stellen ab auf Kosten der Sicherheit", stöhnt Jean-Michel Gouézou.

Unterstützt von schäumenden Kollegen an mehr als 90 Oberschulen und Gymnasien in den Vorstädten zog das Kollegium des "Adolphe Chérioux" mit Trommeln und Spruchbändern vor das Pariser Erziehungsministerium. Doch Luc Chatel, der Minister, blieb unnachgiebig.

Immer lauter wird an französischen Problemschulen nun der Ruf nach strengen Sicherheitskontrollen, wie sie an Flughäfen üblich sind. Auch die flächendeckende Installation von Überwachungskameras wird gefordert.

Dabei hat das amerikanische FBI längst herausgefunden, dass Sicherheitsschleusen an der Schultür das Gegenteil erreichen. "Die Schüler stehen eine Stunde in der Schlange und sind am Ende noch aggressiver", sagt Gouézou.

Am Dienstag haben die Lehrer am Lycée Adolphe Chérioux erstmals seit Wochen wieder Unterricht erteilt. Zur selben Zeit zerstachen Unbekannte am nicht weit entfernten Lycée Guillaume-Apollinaire einem 17-Jährigen das Ohr: mitten in der Turnstunde.

Nun werden sie im Schulministerium allmählich hellhörig. Luc Chatel hat für April einen "Runden Tisch" einberufen.