„Die Justiz ist am Ende ihrer Kräfte“
Richter: Die Landesregierung will Personal einsparen. Doch die Juristen klagen: Wir haben doch schon jetzt zu wenig Leute.
Düsseldorf. Mittwochabend wollen mehr als 500 Richter und Staatsanwälte vor dem Landtag symbolisch Grabkerzen in Form eines Paragraphenzeichens aufstellen. Zu seiner Protestveranstaltung gegen den Abbau von 1000 Stellen in der NRW-Justiz hat der Richterbund auch Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter (CDU) eingeladen. Diese hatte einst selbst als Vorsitzende eben dieses Verbands für die Belange der Richter gekämpft, bevor sie zu höheren Weihen kam. Nun will sie ihren Ex-Kollegen schon vor deren Protest den Wind aus den Segeln nehmen.
In einem Interview verteidigte sie gestern den Stellenabbau: Die Elektronisierung der Arbeit habe zu erheblichen Rationalisierungsgewinnen an Gerichten und Staatsanwaltschaften geführt. Auch aus der Verlängerung der Arbeitszeit ergebe sich ein Stellen-Überhang. Der Stellenabbau sei noch von der alten rot-grünen Landesregierung geplant und von der neuen Regierung abgemildert worden, so Müller-Piepenkötter. Den ursprünglichen Plänen zufolge hätten sogar rund 1400 der 32 000 Stellen abgebaut werden sollen. Von den rund 1000 wegfallenden Stellen entfielen nur 78 auf Richter der Zivil- und Strafgerichte sowie auf Staatsanwälte.
Doch ihr Nachfolger im Amt als Richterbund-Chef, Jens Gnisa, appelliert an die Politik: "Die Justiz ist auf Grund langjähriger Auszehrungspolitik am Ende ihrer Kräfte." Nach der Personalbedarfsplanung lägen die Zahlen bei den Richtern schon jetzt um 17 Prozent und bei den Staatsanwälten um 20 Prozent unter dem Bedarf. Statt zu kürzen, müssten 500 Richter und 200 Staatsanwälte neu eingestellt werden.
Gnisa, selbst Richter am Oberlandesgericht Hamm, schildert, was die dünne Personaldecke für die tägliche Arbeit bedeutet: Ein Amtsrichter müsse pro Jahr rund 600 Zivilverfahren bearbeiten, ein Staatsanwalt jährlich gar 1000 Verfahren. "In all diesen Fällen müssen nicht nur Akten bewegt, sondern Entscheidungen gefällt werden", mahnt Gnisa. Was diese "Fließbandarbeit" für die Qualität der Arbeit, bei der es ja um Schicksale gehe, bedeute, könne sich jeder ausmalen.
Entsprechend der Arbeitsbelastung steige die Dauer der Verfahren: Während amtsgerichtliche Zivilverfahren im Jahr 2000 noch in knapp 79 Prozent der Fälle innerhalb von sechs Monaten erledigt wurden, klappt das mittlerweile nur noch in 73,1 Prozent der Verfahren. Vor zehn Jahren lag die durchschnittliche Dauer von Zivilverfahren vor den Landgerichten noch bei 6,8 Monaten. Zehn Jahre später sind es 8,5 Monate. Das gleiche Bild bei den Strafsachen. Richter Gnisa: "Bei den Landgerichten erreichen wir mit einer Erledigung von 73,3 Prozent innerhalb von sechs Monaten das schlechteste Ergebnis seit zehn Jahren." Und während eine Scheidung vor sieben Jahren noch durchschnittlich 9,3 Monate dauerte, sind es inzwischen 10,8 Monate.
Sauer stößt dem Richterbund- Vorsitzenden auch der Vergleich der Justizministerin mit den Niederlanden auf. Diese hätten "trotz vergleichbarer Bevölkerungszahl nur halb so viele Richter wie Nordrhein-Westfalen". Dabei lasse Müller-Piepenkötter unerwähnt, dass jeder niederländische Richter einen Assistenten habe, der die Entscheidungen vorbereite. "So eine Hilfe haben wir nicht", rückt Gnisa zurecht.
Der Aufschrei der Richter und Staatsanwälte ließe sich leicht als lautstarkes Eintreten für die eigene Sache abtun. Die gleiche Menge Arbeit auf mehr Schultern zu verteilen - das fordern auch Arbeitnehmer anderer Branchen. Doch die steigende Arbeitsbelastung der Justiz ist nicht nur deren Problem. Lange Gerichtsverfahren treffen auch den Rechtsuchenden: Wenn ich im Recht bin, nützt das allein mir herzlich wenig. Ich muss auch Recht bekommen. Zu spätes Recht ist Rechtsverweigerung.
Nehmen wir den Fall eines Kempener Anwalts, der einen Mandanten vor dem Finanzgericht vertritt. Es geht um die Zahlung von Kindergeld. Der Antrag wurde im Juni 2005 gestellt. Nach dem behördlichen Nein liegt die Sache seit Juli 2006 beim Gericht. Und weil dort nach der Statistik ein Verfahren im Schnitt 19,2 Monate dauert, ist erst 2008 mit einem Urteil zu rechnen. Das heißt: Sein Mandant muss Monat für Monat auf ihm vielleicht zustehende 154 Euro verzichten.
Angesichts solcher Zustände hat die Politik eine vermeintliche Patentlösung. Geplant ist eine "Untätigkeitsbeschwerde", mit der der Bürger der langsamen Justiz bei überlangen Verfahren Beine machen soll. Doch das neue Rechtsmittel wird weitere richterliche Kräfte binden. Das riecht nach billigem Ablenkungsmanöver, um von dem eigentlichen Übel - Überlastung durch zu wenig Personal - abzulenken.