Kinderschutz Kindesmissbrauch: NRW-Regierung will „Doctor-Hopping“ erschweren

Kindesmisshandlungen fallen oft beim Kinderarzt auf. Stellt der Nachfragen, wechseln viele Eltern den Mediziner. Ärzte dürfen sich wegen der Schweigepflicht über Verdachtsfälle nicht austauschen. Das soll sich in NRW ändern.

Im Jahr 2015 wurden nach den Zahlen des Statistischen Landesamts NRW knapp 650 Kinder missbraucht.

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Münster/Düsseldorf. Verbrennungen oder ein Knochenbruch: Haben Kinder solche Verletzungen, ist Kinderarzt Burkhard Frase aus Münster besonders aufmerksam. Grund für den Befund kann dann ein Unfall gewesen sein, wie die Eltern es häufig erzählen. Es kann aber auch einer von den im Schnitt drei Fällen pro Jahr in seiner Praxis sein, in denen Kinder misshandelt werden. „Oft lässt sich anhand der Verletzung nicht eindeutig sagen, was die Ursache war“, sagt Frase.

Erst im Wiederholungsfall verhärtet sich meist der Verdacht von Kindesmisshandlung. Ein zweites Mal bekommt er misshandelte Kinder aber mitunter nicht zu Gesicht. Die Täter wechseln mit den Kleinen den Arzt. So bleiben sie unentdeckt. Doctor-Hopping nennt sich das Phänomen. Die Regierung in NRW will dem einen Riegel vorschieben.

Laut Koalitionsvertrag soll Ärzten künftig untereinander beim Verdacht von Kindesmisshandlung der Austausch ermöglicht werden. Bald sollen sie in dieser Situation Rechtssicherheit haben, und nicht wie bisher in einem rechtlichen Graubereich agieren. Es wäre die Klärung einer seit Jahren juristisch umstrittenen Situation, sagt Jura-Prof. Stefan Huster von der Ruhr-Universität Bochum.

2015 wurden nach Angaben des Statistischen Landesamts nach den neuesten Zahlen 649 Mädchen und Jungen unter 14 Jahren in Nordrhein-Westfalen misshandelt oder missbraucht. „Wir gehen davon aus, dass nicht alle Fälle von Kindesmisshandlung bis zur Anzeige kommen, sondern dass es eine Dunkelziffer gibt“, ergänzt Margareta Müller vom Kompetenzzentrum Kinderschutz beim Kinderschutzbund NRW. Jeder Fall, da sind sich alle Experten einig, ist einer zuviel. Doch es ist nicht so einfach, Doctor-Hopping zu verhindern.

Kinderärzte wie Frase unterliegen der Schweigepflicht. Was Patienten ihnen anvertrauen, dürfen sie nicht an Dritte weitertragen - auch nicht an andere Ärzte. Wollen sie das machen, brauchen sie das Einverständnis des Patienten. Das sind im Fall der misshandelten Kinder die Eltern, die gleichzeitig Täter sind und es daher verweigern.

Verstoßen Ärzte jedoch gegen die Schweigepflicht und fragen etwa bei einem Kollegen, ob dort ein Kind schon einmal auffällig geworden ist, machen sie sich strafbar und brechen Berufsrecht.

Der Arzt darf die Schweigepflicht nur in Ausnahmefällen brechen. Das gilt etwa im Fall, dass sonst eine Gefahr für Leib und Leben des Kindes besteht. Doch handfeste Beweise hat Frase am Anfang oft nicht. Er hat zu Beginn nur den Verdacht, dass das Kind nicht - wie von den Eltern behauptet - etwa vom Bobbycar gefallen ist, sondern geschlagen wurde. Verdachtsmomente reichen aber nicht.

Um bei Doctor-Hopping trotzdem aktiv werden zu können, hat der Kinderarzt Ralf Kownatzki zusammen mit anderen 2005 in Duisburg Riskid (Risiko-Kinder-Informationsdatei) gegründet. Es ist eine Art Datenbank für Ärzte im Netz. Wer einen Misshandlungsverdacht hat, kann den Namen des Kindes eingeben und schauen, ob es bereits Befunde zuvor behandelnder Ärzte gibt. Das Portal ist nur für registrierte Ärzte offen.

Bislang machen rund 270 Ärzte bundesweit mit. „Das ist weit entfernt von dem, was wir als Ziel haben“, erklärt Kownatzki. Viele Ärzte seien bislang zurückhaltend. „Die Angst ist, dass man ein Strafverfahren kriegt, wenn man seine Verdachtsfälle dort einstellt“, sagt Kownatzki. Es gebe unterschiedliche Rechtsaufassungen, sagt er. Nach Ansicht von Prof. Huster ist ein Einstellen der Daten der Kinder ohne Einverständnis der Eltern verboten.

Seit 2005 und der Gründung von Riskid gab es zahlreiche Versuche, die gesetzliche Lage zu klären: Juristisch ist die Situation sehr umstritten. „Die Frage ist, ob das Land überhaupt eine Regelung treffen kann oder ob es der Bund machen muss und die nächste Frage ist, wie diese Regelung ausgestaltet werden soll. Es gibt da verfassungsrechtliche Grenzen“, sagt Prof. Huster.

Als 2012 das neue Bundeskinderschutzgesetz in Kraft tritt, hat man auf eine Regelung zum Ärzteaustausch zur Verhinderung von Doctor-Hopping verzichtet. In NRW gab es dann zwischen 2013 und 2015 mehrere Anhörungen im Landesparlament. Doch eine klare gesetzliche Regelung blieb aus. Nun will die neue Regierung einen erneuten Anlauf unternehmen.

Frase arbeitet seit 25 Jahren als Arzt und hat seitdem viel gesehen. „Es gibt so viele unterschiedliche Misshandlungen, wie es Kinder gibt“, sagt er. Gemeinsam sei ihnen häufig eins: Sie haben einen chronischen Verlauf. Wenn ein Kind einmal geschlagen wurde, passiert das häufig ein zweites Mal - und in vielen Fällen nimmt die Stärke der Misshandlungen zu. Der innerärztliche Austausch würde ihm helfen. „Ich hoffe, dass es eine gute, juristisch einwandfreie Regelung gibt“, sagt er.