Vernachlässigung: Wenn Eltern ihre Kinder quälen

Juristen kämpfen seit langem vergeblich dafür, dass die Rechte der Jüngsten in die Verfassung aufgenommen werden.

Hamburg. Kindern gehört die Zukunft, aber dazu müssen sie erst einmal eine Gegenwart haben. Die fünfjährige Lea-Sophie aus Schwerin hat nur eine Vergangenheit. Sie starb, weil ihre Eltern sie verhungern ließen. Nun ist sie Teil der traurigsten Statistik Deutschlands mit Hunderten Kindern, die wegen Vernachlässigung oder Misshandlung ums Leben kamen - wie der zweijährige Kevin aus Bremen und die siebenjährige Jessica aus Hamburg. Auch sie hatten die Aufmerksamkeit der ganzen Nation, aber erst nach ihrem Tod.

NRW führt zum 1. Januar 2008 eine "positive Meldepflicht" ein. Kinderärzte melden dem Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst, welche Kinder zur Vorsorgeuntersuchung U5 bis U9 waren. Durch Abgleich der Daten mit den örtlichen Meldeämtern lässt sich im Umkehrschluss feststellen, welche Kinder nicht untersucht wurden. Deren Eltern erhalten eine entsprechende Aufforderung.

Testlauf Das Positiv-Verfahren in NRW, erst am 14. November 2007 im Landtag beschlossen, ist bisher einmalig. Der komplizierte Weg vom Arzt zur Zentralstelle, von dort zu den Meldeämtern und von dort an die sogenannten "Jugendhilfeträger", die dann reagieren müssen, wird zunächst in Testgebieten ausprobiert. Flächendeckend soll die Meldepflicht bis Ende 2008 eingeführt sein.

Ein misshandeltes Kind wie die fünfjährige Lea-Sophie aus Schwerin leidet still. Übermächtiger Hunger, quälender Durst - von wem hätte das am Ende auf 15 Pfund abgemagerte Geschöpf Hilfe erwarten können, wenn nicht von seinen Eltern?

Der Fall Lea-Sophie ist, wieder einmal, die Spitze eines Eisberges. In Deutschland, so schätzen Experten, leben rund 35000 Kinder in Schmutz und Elend, leiden Hunger und Durst, werden geprügelt oder ohne jede menschliche Zuneigung weggesperrt. Jede Woche sterben zwei bis drei dieser Kinder - in diesem reichen, hoch zivilisierten Land, in dem man für fast alles einen Führerschein braucht, nur nicht für den Umgang mit Kindern.

Seit Jahren fordern Ärzte, Kinderschützer und Politiker, Vorsorgeuntersuchungen für Kinder gesetzlich als Eltern-Pflicht zu verankern. So könnten Defizite in der Gesundheit und Entwicklung wie auch Hinweise auf Verwahrlosung und Misshandlung erkannt werden. Bisher ist eine einheitliche Regelung für alle Bundesländer nicht zustande gekommen - ein Paradebeispiel für unsinnigen Partikularismus.

Insgesamt zehn Vorsorgeuntersuchungen gibt es für Kinder und Jugendlich. NRW regelt jetzt per Gesetz, dass hierzulande die Teilnahme an den fünf Untersuchungen zwischen Kinderklinik und Schul-Eingang behördlich erfasst wird. Kinder, die nicht beim Arzt waren, werden an die Kommunen gemeldet. Dann "können die örtlichen Jugendämter aufsuchend und beratend tätig werden", wie es im schönsten Behördendeutsch heißt.

Eine flächendeckende Vorsorge sieht anders aus. Immerhin, NRW tut was. Nur: Andere Bundesländer tun nicht mit. Das macht das Verfahren kompliziert. Es gibt kein zentrales Meldesystem, folglich bleibt der Schwarze Peter auch hier bei den ohnehin hoffnungslos überforderten Behörden vor Ort.

Wie das ausgehen kann, wissen wir vom tragischen Fall Kevin aus Bremen. Der stand unter Vormundschaft, aber die Jugendbehörde hatte ihn monatelang nicht aufgesucht. Oder vom aktuellen Fall Lea-Sophie in Schwerin. Die Jugendpfleger im Rathaus hatten zwar Hinweise auf die Vernachlässigung des Mädchens. Aber sie entschieden: "Es gibt keine Probleme." Das Kind selbst hatte sich niemand angesehen.