Strategie Wie das Land NRW Radikalisierung hinter Gittern verhindern will
Düsseldorf · Justizminister, Forscher und Vollzug in NRW wollen verhindern, dass die Gefängnisse Brutstätten des Terrors werden. Speziell bereiten sie sich auf die Rückkehr von IS-Kämpfern vor.
Dass in Gefängnissen ein Nährboden für islamistischen Terrorismus entstehen kann, wissen wir seit dem Attentat auf die Satirezeitschrift “Charlie Hebdo: Zwei der Täter hatten sich im Gefängnis kennen gelernt, einer den anderen auf den Weg des Hasses geführt. Diese Gefahr ist auch in Nordrhein-Westfalen erkannt: In den Vollzugsanstalten sitzen allein mehr als 30 bereits radikalisierte Islamisten. Mit deutschen IS-Kämpfern, die in den Kriegsgebieten inhaftiert sind, droht die Rückkehr von Menschen mit extremer Ideologie und ebenso extremer Gewalterfahrung. Justizminister Peter Biesenbach (CDU) will nun eine NRW-Strategie gegen eine Radikalisierung hinter Gittern erarbeiten.
Am Donnerstag traf er in der JVA Düsseldorf auf Einladung des Mediendienstes Migration zusammen mit Wissenschaftlern, Praktikern vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) und Experten aus dem Vollzug. Das Ziel: ausloten, wo NRW schon gut ist - und wo es Nachholbedarf hat. Mustafa Doymus vom Zentrum für Interkulturelle Kompetenz (ZIK) der Justiz NRW hob hervor, dass es als erstes Bundesland überhaupt Islamwissenschaftler - neben ihm arbeiten bereits seit 2017 drei weitere im ZIK-Team - im Vollzug eingestellt hat. So konnten rund 50 Integrationsbeauftragte für die Haftanstalten sowie acht Präventionsbeauftragte gegen islamistische Radikalisierung speziell für die Jugendgefängnisse umfassend ausgebildet werden. Bislang 3000 der rund 6800 Vollzugsbediensteten erhielten zudem eine Schulung über Religionsinhalte des Islam und erste Anzeichen für ein Abdriften in extremistisches Gedankengut.
Gründe der Radikalisierung
Denn Studien belegen, dass eine Radikalisierung meist in erster Linie nichts mit religiösen Überzeugungen zu tun hat, sondern auf biografische Krisen zurückgeht. Die Haft, betonte Biesenbach beim Ortstermin im Düsseldorfer Gefängnis, sei als “absolute Krisen- und Ausnahmesituation” in Isolation vom sozialen Umfeld dementsprechend eine hochsensible. Die Mitarbeiter müssten wachsam sein und wissen, welche Buchbestellungen eines Häftlings etwa auf die Kultivierung radikaler Ideen hindeuten könnten oder wofür es stehen könnte, wenn einer die Autorität der Vollzugsbediensteten als Vertreter der Staatsmacht infrage stellt. Doymus berichtet aber auch von einem Gefangenen in Untersuchungshaft, der nicht im Bett, sondern auf dem Boden schlief - wie sich herausstellte, seine Art, sich auf die Schlafbedingungen in Terrorcamps im IS-Kampfgebiet vorzubereiten.
Bislang, so Doymus, beobachte man in den NRW-Gefängnissen nicht, dass sich die Insassen während der Haftzeit sozusagen aus dem Nichts radikalisierten. Deshalb sei der Ansatz stark präventiv geprägt, etwa durch die Vermittlung von religiösen Werten des Islams durch gemäßigte Fachleute und die ehrliche Beantwortung von Fragen. Dabei helfe es nicht, dass man händeringend nach Imamen suchen muss: Für 36 Anstalten gibt es knapp über 30 und somit nicht ausreichend; unterstützt werden sie von Religionshelfern, aber auch den christlichen Seelsorgern - was laut Justizminister gut angenommen wird. Der türkische Verband Ditib hatte ursprünglich 100 Imame gestellt - sich dann allerdings geweigert, die für alle Beschäftigten hinter Gittern obligatorische Sicherheitsüberprüfung mitzumachen. Das System der Seelsorge, so Islamwissenschaftler Doymus, sei im Islam in Deutschland derzeit noch im Aufbau.
Nach Ausstieg droht Rückfall nach Haftentlassung
Damit sich das Gedankengut der Insassen, die bereits radikalisiert ihre Haft antreten, nicht verbreiten kann, gilt laut Doymus: “Extremisten werden in nordrhein-westfälischen Gefängnissen getrennt.” Wer sich distanzieren wolle, werde an das Aussteigerprogramm des Verfassungsschutzes vermittelt. Woran noch zu arbeiten sei, sei das “Übergangsmanagement”, um auch nach der Haftentlassung einen Rückfall zu verhindern. Immerhin seien alle Bewährungshelfer dazu bereits geschult. Für Konflikt- und Gewaltforscher Andreas Zick, Professor an der Uni Bielefeld, ist diese Fortsetzung der Deradikalisierung nach der Haft “eine der größten Herausforderungen”. Prominentes Bespiel: Der frühere Hassprediger Sven Lau, der sich während der Haft von salafistischen Ideen distanzierte und an einem Aussteigerprogramm teilnimmt; er wurde im Mai vorzeitig entlassen - und nun muss sich zeigen, ob die Läuterung nachhaltig war.
Kollektive posttraumatische Störung bei ehemaligen IS-Kämpfer
Forscher Zick weiß aber aus wissenschaftlicher Sicht auch, dass auf Deutschland noch ein Problem zurollt, auf das es weitgehend unvorbereitet ist: Eine Forscherin der Bielefelder Hochschule interviewt derzeit für eine Studie ehemalige IS-Kämpfer in Lagern im Süden der Türkei. Es handele sich um Gruppen “mit hohem Maß an Gewalt- und Kriegserfahrung”, sagte er am Donnerstag, attestierte sogar eine “kollektive posttraumatische Störung”. Zudem kapselten sich die Dschihadisten ob der unsäglichen Haftbedingungen in ihren Gruppen immer weiter ab, ihre Radikalität wachse stetig. “Wir müssen jetzt sehen, dass wir uns für die kommenden Jahre aufstellen”, forderte er.
Etwa 1050 Menschen aus Deutschland sollen seit 2013 in die IS-Kriegsgebiete etwa in Syrien ausgereist sein, etwa 200 inzwischen verstorben sein - über 300 sind wohl bereits zurückgekehrt. Laut Florian Endres von der Beratungsstelle Radikalisierung des Bamf warten wohl noch rund 100 potenzielle Rückkehrer in Lagern. Justizminister Biesenbach nahm den Ball am Donnerstag auf und verabredete sich mit Uni-Professor Zick zu ersten Beratungen Anfang September, um gemeinsam mit den Praktikern der ZIK eine Gesamtstrategie zur Vermeidung von islamistischer Radikalisierung in NRW-Gefängnissen zu entwerfen. Der Wissenschaftler begrüßte das als ersten wichtigen Schritt: “Wir müssen Forschung und Praxis in NRW besser verzahnen. Da ist noch Luft nach oben.”