Lehrstellenmarkt: Viele Unternehmen greifen die „Sahnehäubchen“ ab

Die Anforderungen an die Auszubildenden sind erheblich gestiegen. Dennoch nimmt die Zahl der freien Stellen zu.

Berlin. Mehr als 108 000 unbesetzte Lehrstellen zählt die Bundesagentur für Arbeit zu Beginn des neuen Ausbildungsjahres. Handwerk, Handel und Verwaltungen werben um Nachwuchs und melden noch freie Plätze "in fast allen Branchen und Berufen".

Mancher Betrieb - vor allem in der Gastronomie und im Lebensmittelhandwerk - fürchtet wegen der weiter sinkenden Schulabgängerzahlen bereits erheblichen Fachkräftemangel.

Doch die andere Seite der Medaille: Mehr als 152000 junge Menschen waren Ende Juli bei den Arbeitsagenturen noch als "unversorgte" Lehrstellenbewerber registriert. Dazu zählen nicht nur Problemfälle und sogenannte Altbewerber, die sich bereits seit Jahren vergeblich um einen Ausbildungsplatz bemühten.

Unter den noch nicht Vermittelten sind 60000 Schulabgänger mit Realschulabschluss sowie mehr als 20 000 junge Menschen mit Hochschulreife.

Wer von den Arbeitsagenturen tatsächlich als "nicht ausbildungsreif" eingestuft wird, ist bis Ende Juli längst an Weiterbildungsträger verwiesen und aus der Bewerberstatistik erst einmal verschwunden. Nur rund 4000 der noch Unversorgten haben keinen Hauptschulabschluss.

Fakt ist allerdings: Die Anforderungen an die Vorbildung der Jugendlichen ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten in fast allen Berufen erheblich gestiegen. Da ist zum einen der technische Wandel. Zum anderen nutzen viele Unternehmen die hohen Bewerberzahlen aus den geburtenstarken Jahrgängen als Chance, die "Sahnehäubchen" abzugreifen: Auch im Handwerk, wo früher Hauptschüler dominierten, sind heute Abiturienten gefragt.

Rund 20 Prozent der 15-jährigen Schulabgänger - so klagt Handelskammer-Präsident Hans Heinrich Driftmann - können "nur unzureichend lesen, schreiben und rechnen".

Die Ergebnisse der Pisa-Schulstudien bestätigen seit zehn Jahren Driftmanns Klagen. Viele Betriebe organisieren inzwischen selbst Nachhilfe. Zugleich gibt es auch bei den sogenannten Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Ordnungssinn und Verlässlichkeit Probleme.

IG-Metall-Vorstandsmitglied Regina Görner sagt dazu: "Es gibt durchaus Mängel bei einigen Bewerbern. Das wegdiskutieren zu wollen, ist falsch."

Viele Schulen müssten einfach besser werden. Görner: "Aber auch viele Unternehmen müssen bei ihrer Einstellungspraxis dringend umdenken - nicht nur, weil mit den geburtenschwachen Jahrgängen auch die Bewerberzahlen sinken."

Eine Umfrage zeigte unlängst auf, dass vier von zehn Industrie-Unternehmen es ablehnen, Jugendliche mit besonderem Förderbedarf auszubilden. Dazu zählen Sonderschul-Abgänger, häufig aber auch Hauptschüler mit durchschnittlichen Abschlussnoten, die gleichwohl von den Arbeitsagenturen als "ausbildungsreif" eingestuft wurden.

Bisher beteiligen sich nur wenige Großunternehmen an Modellversuchen, bei denen auch Jugendlichen eine Ausbildung angeboten wird, deren Talente erst auf den zweiten Blick erkennbar sind.