Lissabon-Vertrag: Die Karlsruher Richter lassen das Parlament nachsitzen

Die Identität der Bundesrepublik steht auf dem Spiel, sagt der Senat. Kontrollfunktionen müssen bleiben.

Karlsruhe. Sie müssen nachsitzen. Voraussichtlich am 26.August und noch einmal am 8. September wollen die Abgeordneten in Berlin erneut über den Lissaboner EU-Vertrag beraten. Nicht der Vertrag, die Begleitgesetze widersprechen der Verfassung. Der Bundestag muss stärker mitwirken. Peinlich: Die Karlsruher Richter machten den Abgeordneten mit ihrem Urteil klar, dass sie sich unter Wert verkauft hatten.

Am 18.September wird sich dann der Bundesrat mit der Ratifizierung des EU-Vertrages befassen. Bundespräsident Horst Köhler war auf "Nummer sicher" gegangen und hatte mit Hinweis auf den erwarteten Richterspruch die Unterzeichnung zurückgestellt. Auch Polen, Tschechien und Irland haben den Vertrag noch nicht ratifiziert.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) war es wichtig, dass der Bundestag noch in dieser Legislaturperiode die Entscheidung treffen wird. Denn: Würde man die Septemberwahl abwarten, würden Monate verstreichen. Merkel ist "froh", dass der Vertrag unbeanstandet blieb. Auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sind die "Hausaufgaben" lieber als Neuverhandlungen in Europa.

"Das Grundgesetz sagt Ja zu Lissabon, verlangt aber auf nationaler Ebene eine Stärkung der parlamentarischen Integrationsverantwortung", erläuterte der Vizepräsident des Gerichts, Andreas Vosskuhle, das Urteil. Der Ausgangspunkt für die acht Richter war der "Grundsatz der Europafreundlichkeit". Die Kompetenzen dürfen auf eine supranationale Organisation verlagert werden. Sollte sich die EU aber zum Bundesstaat weiterentwickeln, würde es die Identität der Bundesrepublik verändern; dann müsste man auch an das Grundgesetz ran.

Der springende Punkt ist, dass der Bundestag nur klar definierte und abgegrenzte Kompetenzen nach Brüssel abgeben kann. Er darf an EU-Institutionen keine Zuständigkeiten abgeben, aus denen quasi automatisch neue Kompetenzen entstehen. Die Richter sprechen von einer "Kompetenz-Kompetenz".

Wenn Kompetenzen nach Brüssel abgegeben werden sollen, muss sich das nationale Parlament damit befassen. Auch sich selbst wies das Verfassungsgericht eine Kontrollfunktion zu. Die EU-Integration dürfe "nicht zur Aushöhlung des demokratischen Herrschaftssystems führen". Der Senat nennt fünf sensible Felder: Strafrecht, Gewaltmonopol, die Ausgaben der öffentlichen Hand, die "sozialpolitische Gestaltung von Lebensverhältnissen sowie kulturell bedeutsame Entscheidungen wie Erziehung, Bildung, Medienordnung und Umgang mit Religionsgemeinschaften".

Die Kläger, dazu gehörten die Linksfraktion ebenso wie etwa die Unionsabgeordneten Peter Gauweiler und Willy Wimmer, dürfen sich teils bestätigt fühlen. Neben generellen Einwänden wollten die Kläger vermeiden, dass unkontrollierte Macht an die EU-Gremien abgegeben wird. Bei den Richtern rannten sie offene Türen ein, zumal das EU-Parlament nach deren Ansicht weder in der Zusammensetzung noch im europäischen Kompetenzgefüge dafür hinreichend gerüstet sei, "repräsentative und zurechenbare Mehrheitsentscheidungen als einheitliche politische Leitentscheidung zu treffen".