Niedriglohn: Jeder Fünfte ist betroffen
Düsseldorf. Nirgendwo wächst der Anteil der Geringverdiener so rasant wie in Deutschland.
6,5 Millionen Menschen in Deutschland verdienen weniger als 9,61 Euro (West) beziehungsweise 6,81 Euro (Ost) in der Stunde. Sie gehören zu der wachsenden Schar von Geringverdienern im Land.
Während es früher überwiegend Geringqualifizierte traf, sind heute immer mehr Menschen mit abgeschlossener Ausbildung betroffen, so der Tenor einer neuen Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg/Essen. Die Leiterin der Forschungsabteilung, Claudia Weinkopf, warnt: "Wir steuern langsam auf US-amerikanische Verhältnisse zu."
Im EU-Vergleich ist Deutschland schon jetzt der "Spitzenreiter" in Sachen Niedriglohn - ungefähr gleichauf mit Großbritannien. Seit 1995 hat sich der Anteil der Geringverdiener um rund die Hälfte erhöht: Waren es vor zwölf Jahren noch 15 Prozent der Beschäftigten, sind es heute 22,2Prozent.
Als Ursachen haben die Forscher zum einen die wachsende Tarifflucht vor allem in Ostdeutschland ausgemacht. Aber auch die Tariflöhne selbst sinken in einigen Branchen, zum Beispiel durch die Ausdehnung der Arbeitszeit oder den Wegfall von Weihnachtsgeld. "Viele Gewerkschaften sind zu schwach organisiert", sagt Weinkopf. "Und auch in den Betrieben selbst wagen insbesondere Geringqualifizierte oft nicht, bei schlechter Bezahlung aufzumucken."
Aber auch die Politik ist an der Entwicklung nicht unschuldig. Durch die Ausweitung der Minijob-Regelungen ermöglichte sie Unternehmen, reguläre Stellen in mehrere 400-Euro-Stellen aufzuspalten. Die Stundenlöhne sind dort oft geringer. Zudem zwingt HartzIV Arbeitslose dazu, auch sehr schlecht bezahlte Jobs anzunehmen, zum Beispiel in Leiharbeit-Unternehmen. Sie beziehen als "Aufstocker" aber weiterhin Sozialleistungen, da sie von ihrem Gehalt nicht leben könnten.
Der Wirtschaftssoziologe Klaus Dörre von der Universität Jena erforscht seit Jahren die Biografien von Leiharbeitern und Mini-Jobbern. Sein ernüchterndes Fazit: Wer ab Mitte 40 einmal in den Niedriglohnsektor abrutscht, findet selten nochmal heraus. Meistens trifft es Frauen oder Migranten, rund ein Drittel der Betroffenen sind Menschen mit abgeschlossener Berufsqualifikation.
Auch der von der Politik erhoffte "Klebeeffekt" bei der Leiharbeit - also der Effekt, dass eingesetzte Leiharbeiter nach einer Weile eine Vollzeitstelle in dem Unternehmen bekommen - bleibt nach Dörres Erkenntnissen aus. "Das klappt nur in zehn bis zwölf Prozent der Fälle. Nur 30Prozent finden überhaupt irgendwann eine Festanstellung."
Die Folgen für die Betroffenen sind immens. Dörre: "Diese Menschen erfahren keine Anerkennung für ihre Arbeit, keine Gehaltserhöhung, keinen Aufstieg. Sie sind verurteilt zu einem Leben am Rand der Gesellschaft."