„Generation Zeitvertrag“ - Der mühsame Weg der Berufseinsteiger
Berlin (dpa) - Zeitverträge sind für Berufseinsteiger inzwischen gang und gäbe. Knapp die Hälfte aller Neueinstellungen ist befristet. Betroffenen bleibt die Hoffnung auf Festanstellung - oft ist sie trügerisch.
Sie hat Kultur- und Wirtschaftswissenschaften studiert, spricht drei Fremdsprachen, war drei Jahre lang Praktikantin im Ausland und qualifiziert sich nebenbei noch weiter: Trotzdem hangelt sich die junge Frau seit fünf Jahren von einem befristeten Job zum nächsten. Die 33-Jährige, die anonym bleiben möchte, gehört zum guten Drittel junger Akademiker in Deutschland, die von einer sicheren, unbefristeten Beschäftigung nur träumen können - trotz gut laufender Konjunktur und Beschäftigungsbooms.
Als vor Jahren von der „Generation Praktikum“ die Rede war, wurde das als Übergangsproblem einer eher kleinen Gruppe von Hochschulabsolventen abgetan. Es ist inzwischen aber fast normal, dass Berufseinsteiger erst mal nur befristet in Arbeit kommen. Auf fast jeden dritten jungen Akademiker in Deutschland (29,0 Prozent) trifft dies zu. Die 33-Jährige gehört auch dazu - und fühlt sich veräppelt. Und: Sie kennt niemand in ihrem Freundeskreis mit einem normalen, unbefristeten Job.
Dabei steuert Deutschland auf annähernde Vollbeschäftigung zu. Im Mai sank die Zahl der Arbeitslosen wieder unter die psychologisch wichtige Marke von drei Millionen. Beim Start der Hartz-IV-Reform Anfang 2005 waren mehr als fünf Millionen Menschen ohne Job. Der deutliche Rückgang seither ist Ergebnis der Reformen am Arbeitsmarkt: Sie brachten flexiblere Beschäftigungsverhältnisse - und mehr sozial schlecht oder gar nicht abgesicherte Verträge.
Ein Verfallsdatum trug 2011 jeder elfte Arbeitsvertrag - neun Prozent aller Beschäftigten über 25 Jahren (EU-Durchschnitt: knapp 11 Prozent). 1991 lag diese Quote in Deutschland laut Statistischem Bundesamt erst bei 5,8 Prozent. Bei Berufseinsteigern fallen die Befristungs-Anteile weit höher aus - besonders im staatlichen Bereich. 80 Prozent der 25 bis 29 Jahre alten Akademiker, die 2011 an einer Universität, Akademie, Fach- oder Verwaltungshochschule beschäftigt waren, hatten nur einen Zeitvertrag.
Deutlich besser sieht es in der Wirtschaft aus: Bei Finanz- und Versicherungsdienstleistern waren im Schnitt 7,0 Prozent junge Akademiker befristet beschäftigt, im verarbeitenden Gewerbe 11,4 Prozent - in der öffentlichen Verwaltung immerhin 29,2 Prozent. Im Schnitt aller Erwerbstätigen dieser Altersgruppe - Akademiker und Nicht-Akademiker - traf das laut offizieller Statistik nicht mal auf jeden Sechsten (17,2 Prozent) zu.
Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsbildung (IAB) aus dem vergangenen Jahr ergab, dass der Anteil befristeter Neueinstellungen zwischen 2001 und 2011 von 32 auf 45 Prozent stieg. Auf diesem Niveau hat sich das Phänomen in den letzten Jahren eingependelt. Damit läuft fast jede zweite Neueinstellung über einen Zeitvertrag.
Das gewerkschaftsnahe WSI-Tarifarchiv fand bei 4300 Befragten heraus, dass 34 Prozent der Jung-Akademiker mit bis zu einem Jahr Berufserfahrung einen Zeitvertrag bekommen hatten. Dies macht sich auch beim Gehalt bemerkbar: Mit im Schnitt 2940 Euro monatlich hinken die Betroffenen beim Einkommen den unbefristet beschäftigten Kollegen um etwa ein Fünftel hinterher. Der Einkommensrückstand fällt mit 38 Prozent im Einzelhandel besonders deutlich aus, gefolgt vom Bereich Ver- und Entsorgung (24 Prozent).
Für den WSI-Tarifexperten Reinhard Bispinck ist die Entwicklung besorgniserregend. „Wenn bis zu 80 Prozent der Hochschulabsolventen als Einstieg nur einen befristeten Arbeitsvertrag bekommen, dann ist das ein Alarmzeichen. Die Politik ist dringend aufgefordert, die Spielräume für die Befristung von Arbeitsverträgen einzuschränken. Und die öffentlichen Arbeitgeber selber sollten hier mit gutem Beispiel vorangehen.“
Praktikum und befristete Beschäftigung gehen nicht selten Hand in Hand. Kritiker sehen darin eine trickreiche Verlängerung der Probezeit - zulasten der Betroffenen. Die beträgt bei einer Festanstellung üblicherweise sechs Monate. Gewerkschafter sprechen vom „Abbau des Kündigungsschutzes durch die Hintertür“.
Bei Schwangerschaft, Elternzeit- oder Krankheitsvertretung ist von einer „Befristung mit Sachgrund“ die Rede. Arbeitgeber weichen bei Ersteinstellungen nach Meinung von Kritikern aber immer häufiger ohne konkrete Begründung auf Verträge auf Zeit aus. Solche sachgrundlose Befristung bei ein und demselben Arbeitgeber darf höchstens für zwei Jahre vereinbart werden. Verträge mit kürzerer Laufzeit können dreimal verlängert werden, bis die zwei Jahre ausgeschöpft sind. 1996 machte die Regierung unter Helmut Kohl (CDU) auch Befristungs-Ketten möglich, was aber von Rot-Grün 2001 mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz wieder revidiert wurde.
Viele Firmen nutzen offenbar die gesetzlich erlaubten zwei Jahre und lassen Neulinge vor der Übernahme regelrecht zappeln, wie auch die 33-Jährige findet: Ihr wurde im Anschluss an einen befristeten Job angeboten, in der Firma zu bleiben - allerdings für das gleiche geringe Geld von 1500 Euro. Da meldete sie sich lieber arbeitslos: „In meiner Generation sind befristete Jobs schon so normal, dass man sich gar nicht mehr wundert“, sagt sie resigniert.
Für Gewerkschaften ist klar: „Sachgrundlose Befristungen gehören abgeschafft“, sagt Annelie Buntenbach, im DGB-Bundesvorstand für den Arbeitsmarkt zuständig. „Sie führen dazu, dass Beschäftigte keine Chance haben, sich eine halbwegs sichere Perspektive für Beruf, Familie und Kinder aufzubauen. Das gilt sogar für den Wohnort, denn man weiß nie, wo man als nächstes landet.“
Die Arbeitgeber sehen das anders, wollen von einer „Generation Praktikum“ oder einer „Generation Zeitarbeit“ keineswegs sprechen. „Eine "Generation Befristung" gibt es nicht“ heißt es beim Arbeitgeberverband BDA. Für dessen Präsidenten Dieter Hundt sind Zeitverträge sogar ein Glücksfall: „Befristete Arbeitsverhältnisse sind eine gute Einstiegsmöglichkeit für Berufsanfänger und Langzeitarbeitslose.“
Von zunächst befristet Beschäftigten wird laut IAB inzwischen mehr als jeder zweite (56 Prozent) in eine unbefristete Festanstellung übernommen. 2005 waren es nur 39 Prozent, im Krisenjahr 2009 etwa 45 Prozent. „Über die Hälfte der Neueinstellungen erfolgt unbefristet“, hat das IAB im Februar 2012 herausgefunden. Hundt sieht deshalb die Entwicklung nicht als problematisch an: „Der Anteil befristeter Arbeitsverhältnisse liegt seit Jahren konstant bei unter zehn Prozent.“
Die Zahlen zeigen: Es ist vor allem der Staat, der seine Bediensteten in Zeitverträge drängt. Um dem „Missbrauch mit Befristungen“ einen Riegel vorzuschieben, fordern nicht nur die Gewerkschaften ein Ende der sogenannten sachgrundlosen Befristung. SPD und Grüne haben sich die Forderung ebenfalls zu eigen gemacht - und wollen sie umsetzen. Den Wahlsieg im Herbst vorausgesetzt. Dann wären Zeitverträge grundsätzlich nur noch im Rahmen einer Vertretungsregelung zulässig.