Studium ohne Abitur - Der steinige Weg zum Erfolg
Stuttgart (dpa) - Beratungsgespräch und Aufnahmeprüfung: Bis sich Andres Plieninger in Tübingen in das Fach Psychologie einschreiben konnte hat der ausgebildete Heilerziehungspfleger die eine oder andere Hürde überwinden müssen.
Studierende ohne Hochschulzugangsberechtigung sind daher an den Universitäten Exoten.
Nur 2435 Männer und Frauen wurden im Jahr 2013 im Südwesten gezählt, wie das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) berichtet. Darunter waren lediglich 751 Studienanfänger ohne Abitur und Fachhochschulreife - das sind 0,96 Prozent aller Studienanfänger in Baden-Württemberg. Das Land liegt damit im Bundesländervergleich auf Platz 14. Nur im Saarland und Sachsen gibt es niedrigere Quoten.
Plieninger ist 27 Jahre alt und im zweiten Semester. Seit Oktober besucht er regelmäßig Vorlesungen. Zuerst habe er überlegt, dass Abitur nachzumachen, sagt er. „Das wäre aber zu viel Aufwand gewesen.“ Deshalb versuchte er einen anderen Weg: Da er keinen Meistertitel vorzuweisen hat, musste er neben einem Eingangsgespräch eine Aufnahmeprüfung absolvieren. Und die hatte es in sich. „Acht Wochen vor der Klausur habe ich jeden Tag gelernt“, sagt Plieninger. Geprüft wurde er in den Fächern Deutsch, Englisch und Statistik.
Das Büffeln fiel Plieninger schwer. Der Realschulabschluss sei damals schon zehn Jahre her gewesen. Auch heute noch arbeitet er nebenher 30 Prozent in seinem Job. „Ohne Studium gibt es in einem sozialen Beruf keine Aufstiegsmöglichkeiten“, begründet er seine Entscheidung.
Ihm macht der Besuch der Hochschule Spaß und er ist besonders motiviert. „Man muss mehr tun als die anderen.“ Der Heilerziehungspfleger musste sich beispielsweise vertieft mit Englisch befassen, weil es einen Großteil der Fachliteratur nicht in Deutsch gibt. Der Altersdurchschnitt in seinem Semester sei 19 Jahre, sagt er. Seinen jüngeren Mitstudenten sei der Übergang von der Schule an die Universität sicherlich leichter gefallen als ihm.
Viele der Bewerber ohne Abitur unterschätzten, was an den Universitäten auf sie zukomme und brächen das Studium wieder ab, sagt Hans-Jochen Schiewer, Vorsitzender der Landesrektorenkonferenz. Seit 2010 schaffen pro Jahr laut Wissenschaftsministerium 700 bis 800 beruflich qualifizierte Männer und Frauen ohne Abitur die Aufnahme an einer Hochschule. Und die Zahlen nehmen zu: 2003 waren es nur 137.
Warum der Südwesten bei der aktuellen Erhebung des CHE mit einen der letzten Plätze belegt, ist nicht untersucht worden. In Baden-Württemberg sei das Thema erst spät angegangen worden, meint Sigrun Nickel, Leiterin der Hochschulforschung bei dem Institut. „Andere Bundesländer waren sicherlich früher dran.“ Grün-Rot im Südwesten setze nun verstärkt auf das Thema.
Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) sagt: „Nachdem wir den Studieneinstieg durch verschiedene Maßnahmen erleichtert haben, wird es in Zukunft darauf ankommen, verstärkt den besonderen Bedürfnissen der beruflich Qualifizierten Rechnung zu tragen.“ Dies gelte zum Beispiel in Bezug auf flexible Studienstrukturen oder bei der Vereinbarkeit von Studium, Beruf und Familie. Denn die Entscheidung, aus dem Beruf auszusteigen und noch einmal von vorne anzufangen, falle einem Interessierten sicherlich nicht leicht.
Insgesamt gibt es im Südwesten rund 360 000 Studenten. Plieninger ist einer von ihnen und hat noch einen längeren Weg vor sich: Nach dem Bachelor will er auf jeden Fall noch den Master machen. Denn ohne ihn sei es schwierig, eine Stelle zu bekommen. Wenn er diesen Abschluss in der Tasche hat, ist er dann deutlich über 30 Jahre alt.